Tichys Einblick
Ekel – und Mut:

Überlegungen zum Sturz Assads

Assad: Vom Präsidenten zum Diktator. Trump: Vom Gefährder zum Staatsmann. Corona: Von der Pandemie zur Randerscheinung. Aus dem Denkverbot von gestern kann die Tagesparole von morgen werden. Das erregt zu Recht Ekel - stellt aber auch für Konservative eine Chance dar.

IMAGO / ZUMA Press Wire

Man braucht kein ganz besonders gewiefter politischer Analyst zu sein, um festzustellen, wie schnell sich die „öffentliche Meinung“ um 180 Grad drehen kann. Trotzdem ist es immer wieder erstaunlich, diese Vorgänge in der Realität zu verfolgen, zumal der verbreitete Mangel an Allgemeinbildung, intellektueller Kohärenz und Weltkenntnis nicht nur seitens der Bürger und der Medien, sondern auch der modernen Politiker diesen Kehrtwendungen einen ganz besonders drastischen Zug verleiht.

Ein erster solcher Fall ist natürlich der Sturz Bashar al-Assads. Wer sich die Mühe macht, ein wenig im virtuellen Gedächtnis des Internets zu stöbern, der wird sich kaum retten können vor lauter Photos, welche Assad in herzlichem Gespräch mit so ziemlich jedem Würdenträger der letzten 25 Jahre zeigen, und ähnlich sieht es aus mit den Presseartikeln, die damals noch nicht von einem „Regime“, einer „Diktatur“ oder einer „Tyrannei“ sprachen, sondern von einem demokratisch gewählten Staatschef, der einen festen Teil der damaligen Welt- und Wertegesellschaft bildete und allgemeine Anerkennung dafür erhielt, Syrien weiter auf dem Kurs eines religiös laizistischen, kulturell liberalen, technologisch modernen und wirtschaftlich kapitalistischen Landes zu halten.

Sieben Unsicherheiten
Syriens Zukunft ist ungewisser denn je
Der Fall Saddam Husseins war ein erster Schuß vor den Bug, der zeigte, daß es dem freien Westen nach dem Fall des Kommunismus nicht mehr genügte, die sogenannte Dritte Welt, vor allem im strategisch wichtigen nahöstlichen Erdöl-Gürtel, von freundlichen Machthabern regieren zu lassen. Man wollte nunmehr auch hier das „Ende der Geschichte“ forcieren und, da man nichts mehr von der Sowjetunion zu befürchten hatte und China mit den eigenen Problemen beschäftigt war, eine echte, tiefe Transformation in Angriff nehmen. Diese Hoffnung kulminierte dann im sogenannten „Arabischen Frühling“, als ein großer Teil der westlichen Welt tatsächlich glaubte, aus dem Sturz lokaler Führer würde „spontan“ eine „freiheitlich-demokratische Gesellschaft“ entstehen, gestützt auf eine moderne, Twitter-nutzende Jugend, die nur von einer Existenz als Latte-Macchiato-trinkende Office-Arbeiter mit Netflix-Anschluß in einer aseptischen postmodernen Hochhaus-Landschaft träumten.

Daß der Sturz der Diktatoren überall im Nahen Osten nicht westlich-demokratische, sondern autoritär-islamistische Gruppen an die Macht spülen würde, und die Twitter-Jugend diese Entwicklung zu nicht unwesentlichen Teilen eher begrüßte und förderte, anstatt sie zu behindern – das ist bis heute eine ideologische No-Go-Zone, die mit dem blinden Progressivismus der europäischen und amerikanischen Massenmedien nicht vereinbar zu sein scheint. Und so ist nunmehr auch in Syrien, trotz aller Lektionen der Geschichte, aus dem respektablen Staatschef der blutrünstige Diktator geworden, während die al-Qaida- und IS-Ableger der HTS-Kämpfer verschämt als „moderate Islamisten“ oder bloß „Rebellen“ tituliert werden, denen man zur „Befreiung“ ihres Landes gratuliert, und denen es nunmehr mit Offenheit und Großzügigkeit zu begegnen gilt, um sie nicht gar, oh weh, in die unfreiwillige Radikalisierung zu treiben.

Sic transit gloria mundi. Daß hinter diesem medialen Kehrtwechsel freilich nicht nur Naivität, sondern handfeste geopolitische wie wirtschaftliche Interessen stehen, braucht hier nicht eigens betont zu werden; als bemerkenswert ist in diesem Kontext nur festzuhalten, wie schnell, rasch und extrem in den letzten Jahren sich jene Paradigmenwechsel vollziehen.

Ein anderes Fallbeispiel ist Donald Trump. Jahrelang in den europäischen Medien verschrien und von den Politikern bis in höchste Regierungskreise lächerlich gemacht – unvergessen ist die unerträglich arrogante Art und Weise, mit der Heiko Maas sich über eine von Trumps Reden vor den Vereinten Nationen mokierte –, hat die US-Wahl auf einmal die europäischen Eliten unsanft aus dem postliberalen Schlaf geweckt und gezeigt, daß bald rauere Zeiten anbrechen könnten.

Politische Potenz
Donald Trump und der präsidiale Praecox
Die Unterwürfigkeit, mit der nicht nur Präsident Macron, sonst selbstdesignierter Vorreiter im Kampf gegen alle Arten von realem oder imaginärem Rechtspopulismus, dem designierten US-Präsidenten seine Aufwartung gemacht hat, spricht Bände: Es ist wohl davon auszugehen, daß das „alte Europa“ nach bester Lakaienart rasch seine großen Töne vergessen und sich in allem dem neuen Herrn unterordnen wird. Und wenn man auch diese Unterwürfigkeit mehr oder weniger geschickt als Maßnahmen zur größeren „Autonomisierung“ Europas kaschieren dürfte, etwa im Bereich der NATO-Ausgaben oder der Energieversorgung, wird es sich dabei bestenfalls um ein rhetorisches Feigenblatt handeln. Trump mit seinem Elephantengedächtnis dürfte die erlittenen Erniedrigungen jedenfalls kaum vergessen und sie den europäischen Staatschefs auf Heller und Pfennig zurückzahlen, und man wird schon jetzt mit etwas Schadenfreude gespannt sein, ob und wie es dem einen oder anderen gelingen wird, aus böser Miene gutes Spiel zu machen und sich lächelnd für die wohlverdienten Fußtritte zu bedanken.

Noch ein weiterer Fall ist die Aufarbeitung der Covid-Skandale. Bis auf einige Fanatiker dürfte kaum noch jemand, der in den letzten vier Jahren Zugang zum Internet gehabt hat und seine Weltkenntnis nicht nur aus der deutschen Tagesschau bezieht, daran zweifeln, daß das eher bescheidene Ausmaß der angeblichen Todespandemie kaum die daraus abgeleiteten Konsequenzen rechtfertigte, daß die demokratische Gewaltenteilung im Ernstfall völlig versagt hat, daß die erzwungene prophylaktische Massenbehandlung eines nicht unwesentlichen Teils der europäischen Bevölkerung mit einer höchst zweifelhaften Gen-Therapie alles andere als ein guter Gedanke war, daß die Medien die Rolle neutraler Berichterstattung enthusiastisch mit derjenigen einer gleichgeschalteten Regime-Presse vertauscht haben, etc. pp. Wie nach dem Fall einer Diktatur hat sich aber auch hier rasch der Mechanismus eingeschliffen, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen und die „alten Geschichten“ nicht mehr aufzuwärmen. Und somit ist eine „Pandemie“, die jahrelang die gesamte Weltöffentlichkeit beschäftigte, seit dem Moment des russischen Angriffs auf die Ukraine auf einmal zu einer reinen Randerscheinung geworden, über die kaum noch jemand spricht, und deren Verarbeitung auf den Sankt Nimmerleins-Tag verschoben worden ist. Auch hier scheint das Kurzzeitgedächtnis der meisten Europäer vollkommen ausgesetzt zu haben.

Man könnte diesen drei Beispielen noch zahlreiche weitere anfügen, die allesamt aber eben nur in vielfältiger Abwandlung eines demonstrieren würden: Wenn ein hinreichender äußerer Grund vorliegt, kann sich die sogenannte „öffentliche Meinung“, also das, was vom polit-medialen Komplex als sozial akzeptable Positionierung verbreitet wird, innerhalb weniger Tage, ja sogar Stunden in ihr völliges Gegenteil verwandeln, ohne daß eine solche Kehrtwende irgendwelche Konsequenzen haben oder besondere Beachtung finden würde.

Der Präsident wird zum Tyrann, der populistische Demagoge zum Staatsmann, das Killervirus zum peinlichen Versehen (Schwamm drüber!); und man darf wohl annehmen, daß die Zukunft uns zahlreiche weitere Beispiele dafür liefern wird und, einmal mehr, die grimmige Dystopie von Orwells 1984 bestätigt, in der es möglich ist, daß die gesamte Bevölkerung von Ozeanien innerhalb weniger Minuten von der Überzeugung, immer schon im Krieg mit Eurasien gewesen zu sein, zu derjenigen übergeht, immer schon Krieg mit Ostasien geführt zu haben – und alle, die aus der Reihe tanzen, als unbelehrbare Volksfeinde zu kriminalisieren.

Was folgt daraus? Die unmittelbare, oberflächliche Antwort ist natürlich: Ekel. Ekel vor Politikern, die heute jene Hände als blutbefleckt bezeichnen, die sie gestern innig geschüttelt haben, Ekel vor jenen Journalisten, die von heute auf morgen ihre Schlagzeilen umstellen und alle kritischen Stimmen als Rechtsextreme oder Querdenker diskreditieren, und Ekel vor einer Bevölkerung, die aus Angst, Desinteresse oder Opportunismus so etwas mit sich machen läßt, anstatt auf die Barrikaden zu gehen. Was liegt da näher, als Politik Politik sein zu lassen, sich in sein privates Tusculum zurückzuziehen und zur Harfe zu greifen, wenn Rom endlich in den wohlverdienten Flammen aufgeht?

Linie von Syrien nach Deutschland
Israel in Syrien, Assads Offiziere in Deutschland?
Aber eine solche Haltung wäre nicht nur unreif, sie wäre auch steril und unmoralisch. Steril, weil jene offensichtliche Verlorenheit, ja Verlogenheit der Gesellschaft aus machiavellistischer Sicht – und jede Politik ist in ihrer Mechanik machiavellistisch, ja muß es sein – auch eine Chance ist: Aus dem Denkverbot von gestern kann die Tagesparole von morgen werden, aus den Gefährdern der Demokratie ihre Vorkämpfer, aus der resilienten Zivilgesellschaft ein peinlicher Propagandaapparat, aus der Haßrede das, „was wir schon immer gesagt haben“: „Fair is foul and foul is fair“. Will sagen: Viele der scheinbar festgefügten Mauern, die das politische, gesellschaftliche, kulturelle und wirtschaftliche Handeln in feste Bahnen lenken, sind beim zweiten Hinblick nur Pappwände, die für den, der die entsprechenden Hebel in die Hand bekommt, beliebig umstellbar sind: Der reale Kampf muß daher zunächst um den Besitz der Hebel gehen.

Und unmoralisch wäre es ohnehin, die Hände in den Schoß zu legen: Für einen Materialisten mag der Sinn des Lebens zwar darin bestehen, ein Maximum an Freude und Genuß aus seiner Existenz zu beziehen und nur jene Kämpfe aufzunehmen, die zu gewinnen sind und im Rahmen seiner eigenen Lebenszeit zu einer konkreten Verbesserung seiner Lage führen: Nur wenige Menschen sind daher noch bereit, für einen Wandel einzutreten, solange ihr privates Dasein noch halbwegs erträglich ist. Aber wer auch immer eine transzendente Vision seiner Existenz hat und begreift, daß sich dieses Dasein nur aus etwas Höherem ableiten läßt und nur im Hinblick auf dieses Letztere überhaupt Sinn macht – für den gelten völlig andere Prioritäten des politischen Kampfes, da die Verteidigung des Wahren, Guten und Schönen eben niemals Verhandlungssache ist oder der Relativität der Tagesgeschäfte unterliegt, sondern absoluten Vorrang besitzt: Vorrang vor dem Einzelnen, Vorrang vor der Gesellschaft und sogar Vorrang vor dem raschen Erfolg.

Und wer unter dieser Voraussetzung auch den Hebel für die Umstellung der Pappwände der Gesellschaft in die Hand bekommt – der könnte gerade unter den gegenwärtigen Voraussetzungen, so lächerlich und peinlich sie auf den ersten Blick wirken, nicht nur Europa, sondern letztlich die ganze Welt aus den Angeln heben.

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