Dass der französische Präsident nach den für ihn ungünstig verlaufenen Europawahlen in Frankreich Neuwahlen ausgerufen hat, hat einen wahren politischen Tsunami ausgelöst. Unmittelbar nach dieser Ankündigung zerlegten sich die in der gaullistischen Tradition stehende Partei der „Republikaner“ vollständig selbst, und zwar unter grotesken Begleitumständen innerhalb weniger Stunden, da man sich nicht darauf einigen konnte, ob man mit Le Pens Rassemblement National zusammengehen soll oder nicht. Ein ähnliches Schicksal widerfuhr der Rechtsaußen-Protestbewegung Eric Zemmours, Reconquête aus ähnlichen Gründen. Zemmour sah sich sogar veranlasst, vier der fünf Abgeordneten, die für seine Partei „Rückeroberung“ gerade neu ins EU-Parlament gewählt worden waren, aus der Partei zu werfen, die er jetzt zusammen mit seiner Lebensgefährtin Sarah Knafo, der einzig verbliebenen Abgeordneten, als sein Privateigentum betrachten kann. Die Ex-Gaullisten waren freilich schon lange im Niedergang und Zemmour, eher ein intellektueller Provokateur als ein Mann der Tagespolitik war auf der politischen Bühne nie mehr als ein Außenseiter.
Wenn man freilich auf den möglichen Ausgang der von Macron offenbar gegen den Willen seines Premierministers ausgerufenen Neuwahlen blickt, dann können einem auch als Deutschem die Schweißperlen auf die Stirn treten, denn Frankreich ist und bleibt ein Kernland der EU, und hatte sogar seit dem Brexit in Brüssel eine immer stärker werdende hegemoniale Führungsrolle für sich beansprucht. Trotz der recht hohen und ständig wachsenden Staatsverschuldung galt Frankreich im Übrigen in der Eurozone bislang noch als vertrauenswürdiger Schuldner, auch wenn einzelne Ratingagenturen seine Kreditwürdigkeit kürzlich etwas herabgestuft haben. Damit dürfte es nach den Wahlen vermutlich vorbei sein. Sowohl das RN als auch die vereinigte Linke haben angekündigt, viele wenn nicht gar alle der Sozialreformen Macrons zurücknehmen zu wollen und bei den Staatsausgeben wieder mit aller Kraft Vollgas zu geben. Das würde bedeuten, dass die französischen Schulden in relativ kurzer Zeit eine ähnliche Höhe erreichen würden wie die italienischen, nur mit dem Unterschied, dass in Frankreich Firmen und private Haushalte deutlich höher verschuldet sind als in Italien, was die Lage kaum besser macht.
Selbst, wenn nach der Wahl weder die Union der Linken, deren eigentlich starke Figur der radikale Sozialist und Deutschlandhasser Mélenchon mit seiner Offenheit gegenüber muslimischem Antisemitismus ist, noch Le Pen mit ihren Verbündeten über eine ausreichende Zahl von Sitzen im Parlament verfügen, um Macron einen Premierminister aufzuzwingen, bleibt das Problem, dass bei dann vermutlich sehr unübersichtlichen Mehrheitsverhältnissen eine Regierungsbildung extrem schwierig sein wird. Wenn man annimmt, dass die Republikaner nur noch mit sehr wenigen Abgeordneten im Parlament vertreten sein werden und Macrons eigene Partei viele Sitze verlieren wird – beides ist wahrscheinlich –, bliebe Macron nur die Wahl einer fragilen Zusammenarbeit entweder mit Le Pen oder aber mit Raphaël Glucksmann, dem Chef der moderaten Sozialisten, die bei der EU-Wahl eine gewisse Renaissance erlebt haben. Beides würde selbst eine sehr vorsichtige Sparpolitik und weitere Sozial- und Wirtschaftsreformen weitgehend unmöglich machen.
Kann Macrons Kalkül einer Entzauberung Le Pens aufgehen?
Freilich scheint Macrons Kalkül zu sein, dass er Le Pen und das RN durch eine Beteiligung an der Regierung oder sogar die Übertragung der Führung in der Regierung entzaubern kann. Zerrieben zwischen dem Präsidenten, der vermutlich feindseligen EU und einem Parlament mit am Ende doch unklaren Mehrheitsverhältnissen würde ein Premierminister von Le Pens Gnaden, etwa Jordan Bardella, so wäre die Annahme, scheitern. Der Präsident könnte dann z. B. in einem Jahr das Parlament erneut auflösen, in der Hoffnung, dass den allzeit rebellischen Franzosen dann die Lust am Protest vergangen wäre, und sie reumütig wieder ihn und seine Partei unterstützen würden. Schlimmstenfalls müsste man das Chaos bis zur den regulären Präsidentschafts- und Parlamentswahlen 2027 sich ausbreiten lassen, was einem Kandidaten aus Macrons Lager die Chance gäbe, so wie einst de Gaulle 1958 – der freilich mit Hilfe des Militärs an die Macht kam – als letzter Garant der Stabilität und Retter des Vaterlandes aufzutreten.
Bis dahin wäre das politisch wichtigste und wirtschaftlich zweitwichtigste Land der EU allerdings in seinem Kurs ganz unberechenbar, wenn nicht sogar weitgehend lahmgelegt, auch wenn nach der französischen Verfassung der Präsident allein die Federführung in der Außen- und Sicherheitspolitik hat. Auch könnte Macron bestimmte Maßnahmen mit Notverordnungen nach Art. 49,3 der Verfassung durchsetzen, falls der Ministerpräsident am Ende doch seinem eigenen Lager angehören sollte. Aber welche Autorität besäße Macron als Präsident noch, wenn eine klare Mehrheit der Abgeordneten in der Kammer seine Politik grundsätzlich ablehnt? Eine Cohabitation mit einem Ministerpräsidenten aus den Reihen der bisherigen Opposition wäre auch nur schwer mit früheren Konstellationen dieser Art vergleichbar, als sich ein linker Präsident und ein bürgerlicher Ministerpräsident oder umgekehrt gegenüberstanden. Die Gegensätze wären weitaus größer, und würden zu ständigen harten Konflikten führen.
Macron mag glauben, dass er mit den Neuwahlen eine Falle für Le Pen konstruiert hat, aber faktisch spielt er mit dem Schicksal seines Landes Russisch Roulette. Seine Neigung zum Narzissmus und zur Selbstüberschätzung treten mehr denn je hervor. Er hält sich wirklich für einen zweiten de Gaulle, wenn nicht gar für eine Art Napoleon, dem es bestimmt ist, die EU zu einer imperialen Macht werden zu lassen, natürlich unter französischer Führung. Auch unterschätzt er vermutlich die Gerissenheit seiner Hauptgegnerin Marine Le Pen. Manche Analysten gehen davon aus, dass Le Pen gar keine klare Mehrheit für ihre Partei bei den Wahlen anstrebt, weil sie weiß, dass in Frankreich die Präsidentschaftswahlen viel wichtiger sind als die Wahlen für das Parlament. Das liefe dann in der Tat nach den Wahlen, wie schon angedeutet, auf eine Minderheitsregierung hinaus, die unter ständigem Beschuss von Links und Rechts stünde, namentlich dann, wenn die Union der Linken und das RN zusammen über die Mehrheit der Sitze in der Kammer verfügen könnten, was leicht eintreten kann. Sehr bald schon würden die Oppositionsparteien die Forderung nach einem Rücktritt von Macron erheben. Ob sich der Präsident nach einer für ihn verlorenen Parlamentswahl solchen Forderungen auf Dauer entziehen kann, ist durchaus unklar. Auch De Gaulle trat ja 1969 nach einem verlorenen Referendum zurück, und die jetzige Wahl in Frankreich trägt natürlich den Charakter eines solchen Plebiszits, das ist klar.
Die französischen Neuwahlen legen die Axt an die Wurzeln der europäischen Währungsgemeinschaft
Was die Vorgänge in Frankreich erneut zeigen, ist vor allem Zweierlei: Zum einen ist die Idee einer immer stärkeren, „souveränen“ EU, die Macron so energisch propagiert hat, in unserem Nachbarland zutiefst unpopulär, selbst dann, wenn diese EU französisch dominiert und geprägt sein sollte, was Macron natürlich anstrebt. Dagegen rebellieren die Franzosen, hier sind sich Linke und Rechte einig; sie wollen dieses Europa mehrheitlich nicht, das ist eindeutig. Zum anderen zeigt sich einmal mehr wie unterschiedlich die politischen Kulturen innerhalb der EU sind. Die Art, wie Probleme wahrgenommen und gedeutet werden, die Verhaltensmuster, die kollektive historische Erinnerung, die politischen Konventionen, die Erwartungshaltungen und die dominierenden Sprachen der Politik könnten kaum radikaler voneinander abweichen als sie es etwa zwischen Frankreich und Deutschland, aber auch im Vergleich zu anderen Ländern tun.
Die quasi monarchische Stellung des Präsidenten, der ungebrochene und oft naiv egoistische Nationalismus, aber auch die anarchistischen Neigungen der Franzosen, die gleichzeitig aber anders als etwa die Italiener auf einen starken, fast allmächtigen Staat setzen, der ihre persönlichen Probleme für sie löst, sind hier relevante Faktoren. Das alles ist sehr, sehr französisch und für den Außenstehenden oft kaum nachvollziehbar. Nur diese Art politische Kultur macht nicht nur Frankreich als Land fast unregierbar, sie wird auch dafür sorgen, dass die ohnehin fragile europäische Währungsunion immer mehr abdriftet, und am Ende womöglich langsam ihrem Untergang entgegentaumelt. Der jetzt absehbare weitere starke Anstieg der französischen Staatsverschuldung wird, wenn kein Wunder geschieht, zu einer ernsten Krise führen, die die EZB vermutlich zwingen wird, wieder vermehrt französische Staatsanleihen zu kaufen und die Zinsen manipulativ nach unten zu drücken, und das auf Dauer. Das wiederum wird den Wert des Euro sinken lassen und die Inflation in allen Euro-Ländern erneut anheizen, das ist klar. Der Euro wird immer mehr zur Ramschwährung werden, wie der französische Franc nach dem II. Weltkrieg, bevor de Gaulle das Land für einige Jahrzehnte ansatzweise stabilisierte, eine wahrhaft herkulische Leistung, die aber Macron nicht mehr vollbringen wird.
Es entbehrt dabei nicht einer gewissen Ironie, dass es französische Politiker wie Mitterand und Delors waren, die das Projekt des Euro 1989/90 maßgeblich durchsetzen, so wie es jetzt Frankreich ist, dass die gemeinsame Währung faktisch endgültig zu unterminieren droht. In dieser Situation freilich an einer deutschen Schuldenbremse festzuhalten, ist komplett irrsinnig, und nur deutsche Politiker sind zu einer solchen Torheit fähig, denn wir haften für die französischen und italienischen sowie sonstigen Staatsschulden unserer Euro-Partnerländer ja ohnehin mit, wie die letzten Jahre gezeigt haben; da nützt es uns gar nichts, unsere eigene Staatsverschuldung zu begrenzen, auch wenn ein Herr Lindner sich weigert, das zu begreifen.