Nun prallen sie also in aller Öffentlichkeit aufeinander: Die Vorstellungen Deutschlands und Frankreichs über die strategische Weiterentwicklung der Europäischen Union. Sie liegen meilenweit auseinander. Auslöser für den Zusammenstoß war ein Gastbeitrag der deutschen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer im Magazin Politico noch vor der US-Präsidentschaftswahl. Sie hatte darin ein Ende der „Illusion über eine europäische strategische Autonomie“ angemahnt und betont, dass Europa die Rolle der Vereinigten Staaten für seine Sicherheit niemals ersetzen könne. Vor einem Gespräch mit dem amerikanischen Außenminister Mike Pompeo forderte hingegen der französische Präsident Emmanuel Macron die EU-Partner auf, das Ziel einer strategischen Autonomie Europas konsequent weiterzuverfolgen.
Und nicht nur das: Im Gespräch mit der Online-Zeitung „Le Grand Continent“ griff er die Vision der deutschen Verteidigungsministerin frontal an: Er teile Annegret Kramp-Karrenbauers Position „ganz und gar nicht“. „Ich halte das für eine Fehlinterpretation der Geschichte“, so Macron. „Die Vereinigten Staaten werden uns nur als Verbündete akzeptieren, wenn wir uns selber ernst nehmen, und wenn wir in unserer eigenen Verteidigung souverän sind“. Dahinter steht offenbar die Befürchtung, dass die Bundesregierung nach dem Machtwechsel im Weißen Haus wiederum den Rotstift bei den Rüstungsausgaben ansetzt. Der Ausbau der europäischen Verteidigungskapazitäten würde damit erneut unter die Räder geraten.
Schritt zu europäischer Innenpolitik
Zumindest als Beispiel guter Nachbarschaft kann der Versuch Macrons gelten, einen Widerspruch zwischen der Position der Verteidigungsministerin und dem Kurs von Angela Merkel auszumachen. „Zum Glück verfolgt die deutsche Kanzlerin nicht diese Linie, wenn ich es richtig verstanden habe“, äußerte er. Macron sieht im „Regierungswechsel in den Vereinigten Staaten vielmehr eine Chance, in völlig beruhigter und entspannter Weise weiter am unter Verbündeten notwendigen gegenseitigen Verständnis dafür zu arbeiten, dass wir den Aufbau unserer eigenen Autonomie fortsetzen“.
Was sind aber nun für Folgerungen aus diesem aktuellen Zwist der beiden EU-Führungsnationen abzuleiten? Was bedeutet das politisch, was sagt das über die inhaltliche Zusammenarbeit aus und wie kann es weitergehen?
Außer Spesen nichts gewesen?
Andererseits drängt sich die Frage auf, worüber die hohen Herrschaften eigentlich reden, wenn sie Dutzende Male im Laufe jedes Jahres mit Experten und ohne zusammensitzen. Und was ist in der Angelegenheit unternommen worden, seitdem Präsident Macron schon bald nach seiner Wahl beginnend diverse Initiativen für die Weiterentwicklung Europas ergriffen hat? Nur drei Beispiele aus einer ganzen Reihe:
- In einer Rede am 26. September 2017 an der Sorbonne plädierte Macron für die Neubegründung eines souveränen, geeinten und demokratischen Europas.
- Im November 2018 unternahm der französische Präsident im Rahmen der Gedenkwoche zum 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkriegs einen Vorstoß in Richtung einer „wahren europäischen Armee“, ohne die Europa nicht verteidigt werden könne. Er warnte vor ›autoritären Mächten, die an den Grenzen Europas aufsteigen und sich wieder bewaffnen‹. Europa müsse sich verteidigen ›mit Blick auf China, auf Russland und sogar die USA‹. Der von US-Präsident Donald Trump angekündigte Rückzug aus dem INF-Abrüstungsvertrag mit Russland sei eine Gefahr für Europa. ›Wer ist das Hauptopfer?‹, fragte Macron – und gab selbst die Antwort: ›Europa und seine Sicherheit.‹«
- Macron forderte weiters die Europäer auf, weltpolitisch die Zuschauerrolle aufzugeben. Er sprach von einer „stabilisierenden Tugend“ von Atomwaffen und bot gar einen „strategischen Dialog“ über die „Rolle der nuklearen Abschreckung Frankreichs“ an. Wörtlich: „Die europäischen Partner, die sich in dieser Richtung engagieren wollen, könnten eingebunden werden in die Übungen der französischen Abschreckungskräfte.“
Was kam daraufhin von der deutschen Seite? Nicht mal schöne Worte hatte man dafür übrig, die Kanzlerin hüllte sich außer einer Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz weitgehend in Schweigen. Dem Franzosen mit gehörigem zeitlichem Abstand antworten durfte AKK, anfangs als CDU-Vorsitzende, nun als Verteidigungsministerin. Da Schweigen liegt nicht etwa daran, dass das Virus die politische Energie absorbiere. Es hat andere Gründe.
Aufbau einer europäischen Autonomie
Bei der Konstruktion eines Billionen schweren europäischen Schuldenturmes zur Bekämpfung der Pandemiefolgen herrschte dagegen zwischen beiden Partnerländern weitgehend Einigkeit. Die nicht nur atmosphärische Trübung auf dem Sektor Außen- und Sicherheitspolitik aber bekommen Sie nicht in den Griff. Ist man sich im Ziel nicht einig, lohnt aber nicht mal der erste Schritt, er könnte in die falsche Richtung gehen. Insofern ist es höchste Eisenbahn, dass Deutschland und Frankreich endlich einen Prozess einleiten, der auf der Basis einer systematischen Diskussion der Möglichkeiten und Grenzen, der Herausforderungen und absehbaren Entwicklungen in und um Europa zu notwendigen Schlussfolgerungen kommt. Die Briten haben die EU verlassen, die Türkei zündelt als NATO-Mitglied an der europäischen Haustür, Russland ist zum unberechenbaren Nachbarn geworden, die Volksrepublik China klopft vernehmlich an die Tür zum Weltmachtstatus und die USA haben mehr als genug mit Asien und sich selbst zu tun. Worauf warten?
Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) wie zahlreiche andere politische Akteure und Parteien sieht (zumindest in Sonntagsreden) die Notwendigkeit, dass Europa in zunehmendem Maße selbst Verantwortung für sein Wohlergehen und seine Sicherheit übernimmt. Die Debatte über die Stärkung der europäischen Handlungs- und Gestaltungsfähigkeit dreht sich seit Jahren um Begriffe wie strategische Autonomie oder – in Frankreich – der europäischen Souveränität.
Deutsche Verweigerungshaltung
Strategische Autonomie versteht die SWP als Fähigkeit, eigene außen- und sicherheitspolitische Prioritäten zu setzen und Entscheidungen treffen zu können. Auch die institutionellen, politischen und materiellen Voraussetzungen zählen dazu, um diese in Kooperation mit Dritten oder, falls nötig, eigenständig umsetzen zu können. Das gesamte Spektrum außen- und sicherheitspolitischen Handelns ist betroffen, die verteidigungspolitische Dimension lediglich ein Teil davon. Autonomie kann dabei immer nur ein relatives Maß darstellen. Politisch geht es um einen Zuwachs an Handlungsfähigkeit, also um einen Prozess und keinen absoluten Zustand. Autonomie bedeutet damit weder Autarkie noch Abschottung oder die Absage von Allianzen. Sie ist kein Selbstzweck, sondern Mittel, um die eigenen Werte und Interessen zu schützen und zu fördern.
Europäische Souveränität nicht erwünscht
Um es zu wiederholen: Auch die deutsche Politik strebt nach einem gewissen Maß eigenständiger europäischer Souveränität, es muss nur im eigenen Interesse liegen! Dann ist sie auch dafür, im Benehmen mit den europäischen Partnern die eigene Handlungsfähigkeit zu steigern und damit die relative eigene Autonomie zu erhöhen. Nach diesen Worten wäre AKK ziemlich in der Nähe von Macron, das Ganze gar nur ein Streit um das richtige Maß. Dieser fordert schließlich auch nicht, über Nacht die Brücken über den großen Teich abzubrechen und sich abzuschotten. Warum aber dreht man sich dann gegenseitig die Worte im Mund herum und beharrt auf dem eigenen Wortgeklingel. Mehr ist es offensichtlich dann halt doch nicht. Ein schrittweises Vorgehen, ohne die Amerikaner zu verprellen, ist die Forderung der NATO und liegt gleichermaßen im Interesse der EU wie der USA. Heute geht ohne die Vereinigten Staaten kaum etwas, das darf aber nicht so bleiben.
Warum zieht Frau Merkel nun das Heft des Handelns auf diesem für den Kontinent überlebenswichtigen Feld nicht an sich, warum sitzt sie im Kanzleramt und schweigt sich aus? Sie pflegt eine Form taktischer Autonomie – zum Schaden des europäischen Projektes sowie einer vertrauensvollen deutsch-französischen Zusammenarbeit.