Tichys Einblick
Advokaten der Impfpflicht

Nach Straßburger Urteil: Die Europarechtsgemeinde sucht nach Gründen für die Impfpflicht

In verschiedenen europäischen Ländern gibt es bereits eine Diskussion über eine Impfpflicht gegen Covid. Als erstes soll es einzelne, besonders sensible Berufsgruppen treffen. Doch einige Europarechtler sehen Möglichkeiten darüber hinaus. Ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom April soll Argumente dafür liefern. Dabei ging es dort um die Impfpflicht für tschechische Kinder.

Proteste in Toulouse, 31.07.2021

IMAGO / NurPhoto

Immer weiter klaffen inzwischen die Meinungen in der Diskussion über die Impfstoffe gegen die neue Atemwegserkrankung Covid auseinander. Wo Unternehmen und Regierungen zur Eile drängen, warnt eine bedeutende Anzahl von Forschern und Wissenschaftlern vor den Folgen einer übereilten und unbedachten Impfkampagne. Der Direktor des Pathologischen Instituts der Universität Heidelberg, Prof. Dr. Peter Schirmacher, fordert, die im Anschluss an die Covid-Impfung Verstorbenen zu obduzieren – ähnlich wie er es seit einem Jahr mit den an oder mit Covid Verstorbenen macht.

Laut der Augsburger Allgemeinen vermutet Schirmacher eine hohe Dunkelziffer bei den Impftoten. Von 40 innerhalb von zwei Wochen nach der Impfung Verstorbenen, die er bisher obduziert hat, seien etwa ein Drittel an der Impfung gestorben. Wenn ein herausgehobener klinisch arbeitender Mediziner wie Prof. Schirmacher etwas derartiges fordert, kann es vielleicht doch nicht so ganz unsinnig sein, eine gewisse Vorsicht gegenüber den neuen Impfungen walten zu lassen.

Nun könnte man meinen, dass nationale oder supranationale Gerichte dazu beitragen können, die Gegensätze auszugleichen.

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Im April veröffentlichte der Straßburger Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), der Gerichtssitz des Europarats, an dem vor allem die in der Europäischen Menschenrechtskonvention niedergelegten Grundrechte gewürdigt werden, eines seiner Urteile. Was sich daran anschloss, ist leider wieder einmal typisch für die Debattenkultur unserer Zeiten, die leider oft eine Unkultur ist, weil nicht mehr Argumente ausgetauscht werden, sondern Meinungen an Scheinargumente geknüpft.

In diesem Fall ging es um die Klage mehrerer tschechischer Familien, die der Meinung waren, dass die staatlich auferlegte Pflicht zur Impfung von Kindern gegen insgesamt neun Krankheiten, wie sie in Tschechien besteht, das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, EMRK) verletzt. Das Gericht gab den Eltern nicht recht und formulierte – in seiner notorischen Fixierung auf einen eigenwilligen Demokratiebegriff –, dass verpflichtende Impfungen für Kinder »notwendig in einer demokratischen Gesellschaft« seien (Vavřička und andere gegen die Tschechische Republik, 8. April 2021).

Tatsächlich gibt es diesen Begriff des in oder für eine demokratische Gesellschaft »Notwendigen« immer wieder in der Rechtsprechung des EGMR, es handelt sich sozusagen um eine elegante Umschreibung für die Grenzen der freien, demokratischen Gesellschaft. Und natürlich gibt es Notwendigkeiten auch in einer freien Gesellschaft. Aber wer sind die EGMR-Richter, dass sie deren Ausmaß quasi souverän beurteilen könnten? Sie können es sicher nicht allein, sind vielmehr auf die Eingaben aus Gesellschaft, Wissenschaft und Politik angewiesen, um zu erkennen, welches der notwendige Rahmen bestimmter Maßnahmen und Regelungen ist. Diese Eingaben müssten in diesem Fall wohl am besten in Klageform an den EGMR herangetragen werden. Ob das Gericht ihnen stattgäbe, ist eine andere Frage.

Denn der EGMR ist seit einiger Zeit in die Kritik geraten. So wird den urteilenden Richtern vorgeworfen, nicht unabhängig zu sein und Fälle aus politischen Gründen zur Beratung anzunehmen oder abzulehnen. Das Recht der EGMR-Richter, einen Fall als nicht relevant auszusortieren, führt nach den Kritikern dazu, dass Urteile nach politischer Opportunität ›produziert‹ werden können.

Herdenimmunität durch Covid-Impfungen eher unwahrscheinlich

Eine Impfpflicht für Kinder gilt sehr partiell auch in Deutschland, nämlich für Masern. Andere Impfungen werden empfohlen, auch mit einigem Druck. Und über beides kann und darf man verschiedene Auffassungen haben. Trotzdem war die Behauptung in einem Artikel des Deutschen Ärzteblatts zum EGMR-Urteil ebenso erwartbar wie unlogisch: »Die Entscheidung wurde von der Großen Kammer des Gerichts getroffen und kann nicht angefochten werden. Es ist das erste Urteil des EGMR zu einer Impfpflicht für Kinder. Experten zufolge könnte es Auswirkungen auf die derzeit vielerorts laufenden Coronaimpfkampagnen haben.«

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Dass das Urteil zur tschechischen Impfpflicht für Kinder ausgerechnet in den April 2021 fällt, in dem die Pläne zu einer ganz anderen Impfpflicht – in Frankreich, Griechenland, Großbritannien – vielleicht schon in den Schubladen lagen, könnte insofern mehr als ein Zufall gewesen sein. Da aber nationale ebenso wie supranationale Gerichte nicht nur von Exekutive und Legislative unabhängig sein sollten, sondern wohl auch von der vielbeschworenen ›Zivilgesellschaft‹ – die fast immer aus interessengeleiteten Organisationen besteht, wäre das eine besorgniserregende Tendenz.

Im Artikel des Ärzteblatts heißt es übrigens weiter: »Um die Coronapandemie einzudämmen, ist eine Herdenimmunität notwendig.« Dass sich eine solche Herdenimmunität durch Impfung erreichen lässt, gilt inzwischen als mehr als unsicher. Übersehen wird allerdings regelmäßig die natürlich erworbene Hintergrundimmunität abseits aller Impfungen.

Gibt es eine »Impfpolitik« als Vorrecht der Staaten?

Nicolas Hervieu, spezialisiert auf öffentliches Recht und europäisches Recht der Menschenrechte an der Pariser Universität Sciences Po, meint: »Dieses Urteil stärkt die Möglichkeit einer Impfpflicht unter den Bedingungen der aktuellen COVID-19-Epidemie.« Staaten hätten nach dem Urteil einen großen »Ermessensspielraum« bei »ihrer Impfpolitik«. Diese Haltung spiegelt sich in so mancher juristischen Expertenmeinung, die derzeit veröffentlicht wird. Dass aber eine Impfpflicht bei bestimmten Krankheiten möglich ist, macht sie nicht auch im Fall der neuen Krankheit Covid plausibel.

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 Tatsächlich steht im EGMR-Urteil etwas von jenem großen »Ermessensspielraum« der Staaten in Bezug auf obligatorische Impfungen bei Kindern, und das obwohl sich das Straßburger Gericht in anderen Fällen gern als Kontrolleur der Mitgliedsstaaten gibt. Nach diesem Urteil wie nach dem europäischen Menschenrechtsexperten Hervieu wäre die Impfpolitik also eine Art Prärogative des
»Staats«.

Dabei ist der Gegensatz von Staat und Bürgern normalerweise konstitutiv für die Europäische Menschenrechtskonvention und die dort anschließende Rechtsprechung des EGMR. Fast immer geht es dort um das Verhältnis der Menschenrechte von Bürgern, Einwohnern und zufällig Anwesenden zum nationalen Recht der Mitgliedsstaaten. Häufig stehen die Staaten als Unholde da, nur in diesem Fall offenbar nicht. Dabei sollte der Bürger gerade bei etwas so Intim-Körperlichem
wie einer Impfung ein großes Mitspracherecht haben. Allerdings wies auch einer der
intervenierenden Dritten im Fall der tschechischen Eltern gegen den tschechischen Staat darauf hin, dass staatlicher Zwang mitunter unerwartete, ungewollte Ergebnisse hervorbringe.

Warum Covid etwas anderes als Tetanus ist

Laut Hervieu begünstigt das EGMR-Urteil nun vor allem »das Prinzip der sozialen Solidarität, das es rechtfertigen kann, die Impfung allen aufzuerlegen, auch jenen, die sich von der Krankheit weniger bedroht fühlen – solange es um den Schutz der am meisten gefährdeten Menschen geht«. Hier wird ein diffuses Wohl der Masse, das angesichts der neuesten Erkenntnisse zur Delta-Variante auch durch die Impfung nicht gewahrt wird, gegen die Freiheitsrechte des Einzelnen ausgespielt.

Das Bezeichnende fast aller Berichte über das Impfurteil des Straßburger Gerichts ist aber vor allem der Sprung von den alten mehr oder weniger obligatorischen Impfungen, die gegen altbekannte, endemische Infektionskrankheiten (Masern, Diphterie, Tetanus) eingeführt wurden, zur heute angestrebten Impfung gegen Covid. Die Unterschiede zwischen beiden Fällen sind insgesamt drei:

  1. Covid ist eine völlig neue Erkrankung, bei der folglich noch nicht sicher ist, dass sie auf lange Sicht endemisch und gefährlich sein wird.
  2. Die Covid-Impfstoffe sind alle nicht ausreichend und nicht ausreichend lange getestet worden, so dass ihre Sicherheit signifikant unter der von herkömmlich entwickelten und zugelassenen Impfstoffen liegt.
  3. Es ist noch nicht einmal klar, dass die derzeit entwickelten Covid-Impfstoffe eine dauerhafte Immunität verleihen. Sie könnten durchaus den Charakter der Grippe-Impfung annehmen, die – wenn man ihr denn etwas abgewinnen kann – alljährlich erneuert werden muss.

Und tatsächlich könnten sich Bürger und Arbeitnehmer erneut auf ihr Recht auf Familien- und Privatleben berufen, um einer Covid-Impfpflicht, egal ob privat oder vom Staat ausgesprochen, zu widersprechen.

Was sagen Menschenrechtsorganisationen?

Das Deutsche Institut für Menschenrechte weiß in einer Stellungnahme, dass jeder Mensch »das Recht auf einen sicheren und wirksamen Corona-Impfstoff« hat, genauer einen »nach dem aktuellen Forschungsstand« sicheren und wirksamen Impfstoff. Außerdem müssten Menschen über »Falschinformationen« zu Sicherheit und Wirksamkeit des Impfstoffs »geschützt werden«. Das Institut zweifelt also weniger am aktuellen Forschungsstand zu den Covid-Impfstoffen (der ohnehin eine sehr begrenzte Größe ist) als an der Impfskepsis, die sich angeblich vor allem über das Internet und die sozialen Medien ausbreitet. Das Institut preist sich als »die unabhängige Nationale Menschenrechtsinstitution Deutschlands« an, wurde aber durch einen Bundestagsbeschluss ins Leben gerufen und wird weiterhin vom Bundestag finanziert.

Weitere Menschenrechtsorganisationen (auch NGOs genannt), wie die amerikanische Human Rights Watch, sorgen sich naturgemäß besonders um den »gerechten Zugang zu Impfstoffen«. Bei ihnen handelt es sich ja hauptsächlich um Globalisierer der sozialen Gerechtigkeit, nicht um Organisationen, die die Menschenrechte wirklich durchdenken, um dann ein universales Konzept für deren weltweite Anwendung vorzulegen. Dasselbe gilt leider für den Hohen Kommissar für Menschenrechte bei den Vereinten Nationen, dem zwar sozio-ökonomische und rassendiskriminatorische Aspekte der Impfstoffverteilung am Herzen liegen, doch nicht die Freiheit des Einzelnen in seiner Reaktion auf die neue Krankheit.

Der Gesunde als Kranker
Wenn Geimpfte wieder zu Ungeimpften werden, was dann?
Auf der Seite des Europarats – also der Mutterorganisation des EGMR – findet sich zwar ein formschönes Zitat der Generalsekretärin Marija Pejčinović Burić, wonach das Virus vieles, was uns lieb und teuer ist, zerstört, es dürfe aber nicht die »Kernwerte und freien Gesellschaften« der Europaratsmitglieder zerstören. Im weiteren geht es aber in vielen Einzeldokumenten weniger um die Verteidigung demokratischer Werte und Freiheiten als um die »starke und effektive« Durchsetzung möglichst weitgehender Maßnahmen gegen das Virus. Welche Rolle eine »demokratische Regierungsführung« dabei spielt, versucht ein Sonderbericht vom 16. Dezember 2020 zu ergründen. Gute Regierungsführung erfordert demnach »Belastbarkeit, Flexibilität, Leistungsfähigkeit und Koordination, damit Schlüsseldienstleistungen in jedem Fall aufrechterhalten und gleichzeitig die Infektionszahlen unter Kontrolle gehalten werden« können. Das klingt alles sinnvoll, hört sich aber eher nach einem Test für demokratische Institutionen an als nach deren Blüte.

Seit letztem Jahr haben Fluggesellschaften angekündigt, dass sie ihren Passagieren künftig einen Impfpasseintrag zum neuen Coronavirus abverlangen würden, so etwa die australische Qantas im November. Diese Äußerungen entsprangen vor allem wirtschaftlichen Argumenten und dem Wunsch, die internationale Luftfahrt nach der Pandemie neu zu starten. Inzwischen haben die erweiterten Test-Möglichkeiten den Impfzwang in der Luft in den Hintergrund gedrängt.

In einigen australischen Bundesstaaten gibt es eine sogenannte »No Jab No Pay«-Regelung, die wiederum für die Schutzimpfungen für Kinder gilt. Kinder, die nicht mit den konventionellen Impfstoffen für gewisse Infektionskrankheiten geimpft sind, sind von bestimmten staatlichen Leistungen ausgeschlossen. In Deutschland gibt es seit dem 1. März 2020 eine Pflicht zur Masernimpfung, ohne die Kinder nicht in Kitas, Kindergärten und Schulen gelassen werden sollen.

Großbritannien: Veganer müssen sich nicht impfen lassen

In Großbritannien sieht es nun so aus, dass Veganer von einer staatlichen oder betrieblichen Impfpflicht ausgenommen wären. Das verlangten die britischen Arbeitsgesetze. Das ähnelt den Ausnahmen für Menschen, die aus Glaubensgründen keine Impfung akzeptieren wollen, wie sie vom British Institute of Human Rights erwähnt wird.

Das traditionsreiche Institut hat einen Leitfaden zum Thema entwickelt, der die deutsche Diskussion weit hinter sich lässt und breit auf Bedenken gegen die Impfung eingeht. So könnten Fragen aufkommen, ob das Recht auf Leben einer Person ausreichend geschützt wurde, wenn diese Person von der Regierung oder Gesundheitsbehörden zu einer Impfung ermutigt wurde, dabei nicht vollständig über die einhergehenden Risiken aufgeklärt wurde und durch den Impfstoff sterben sollte. Weitere Zitate lauten:

Derweil hält Außenminister Dominic Raab einen Impfzwang für Angestellte, wie ihn Netflix und Google praktizieren wollen, für eine »kluge Politik«. In Großbritannien haben nur 12 Prozent ihr Angebot zur ersten Impfung nicht angenommen. Der gesellschaftliche Druck auf sie muss unvorstellbar sein.

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