Der Unterschied zwischen Spanien und Deutschland liegt im Beginn der Pandemie. Dass in Spanien gemäβ offizieller Angaben rund 91.000 Menschen an dem Virus gestorben sind, davon schon 40.000 in den ersten vier Monaten, hat alles verändert. Deutschland kommt nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) bisher auf rund 115.000 Tote, bei einer fast doppelt so hohen Bevölkerungszahl.
Dass Spanien seit Monaten politisch so locker mit der Pandemie umgehen kann, beruht allein auf dem Trauma der Bevölkerung, das die Menschen von sich aus sehr vorsichtig gemacht hat. Die Maske wird auch im Freien kaum ausgezogen. Premier Pedro Sánchez hatte anfänglich viel zu spät reagiert auf die sich anbahnende Gesundheitskrise. Am 8. März 2020 hatte er noch eine Massen-Demonstration zum Frauentag zugelassen. Eine Woche später wurde der Alarmzustand ausgerufen, und 2,5 Monate lang durften die Bürger nur für notwendige Einkäufe und essenzielle Arbeiten das Haus verlassen.
Die Spanier hätten die Wissenschaft nicht wie in Deutschland in Frage gestellt, behauptet der deutsche Epidemiologe Christian Drosten, und eine Impfquote von fast 90 Prozent. Die Spanier hätten verstanden, dass die Impfung sie nicht nur schützt, sondern tatsächlich Freiheit bringt. Möglicherweise war es aber auch die realitätsnähere Regierung.
Die Pandemie ist politisch so gut wie abgehakt
Madrid startete vor einem Jahr mit einer Öffnung der Theater, Konzerthallen und Kinos. Die Regional-Präsidentin Isabel Díaz Ayuso wurde deswegen von vielen gefeiert. Sánchez folgte ihrem erfolgreichen Beispiel. Im Mai 2021 wurde der Alarmzustand aufgehoben, und die 17 autonomen Regionen konnten nun selbst entscheiden, wie sie mit der Pandemie umgehen. In den meisten Fällen sind die Fußballstadien wieder gefüllt, die Schulen blieben auch jetzt überall offen, es wird dort nicht getestet, und in Madrid findet in diesen Tagen sogar die internationale Touristikmesse Fitur statt. Mit dieser Pragmatik hat sich die spanische Regierung viele moralische Diskussionen erspart, mit denen die deutsche Gesellschaft derzeit gequält wird. Andere Themen, aber nicht die Pandemie, haben Spanien gespalten.
Die spanische Regierung hat auch nicht mehr viel Spielraum für Auflagen und Restriktionen, weil die mentale Lage der Bevölkerung kritisch ist und die Probleme anerkannt werden. Die Zahl der Selbstmorde und psychischen Krankheiten hat aufgrund der selbst auferlegten Isolierung vieler Menschen zugenommen. Elf Menschen bringen sich nach offiziellen Angaben im Durchschnitt jeden Tag um. Männer machen Zweidrittel der Opfer aus. Noch nie hatte Spanien so hohe Freitodzahlen. Auch die Geburtenrate ist anders als in Deutschland zurückgegangen. Doch darüber wird debattiert während in Deutschland der Gesundheitsminister behauptet, es gäbe derartige Probleme bei Kindern einfach nicht.
Spaniens Gesellschaft ist psychisch angeknackst wegen der Pandemie
„Eine auf Gruppen und soziale Kontakte basierende Gesellschaft leidet besonders unter der selbst auferlegten Isolierung und den fehlenden Umarmungen“, sagt die im Madrider Krankenhaus Ramón y Cajal arbeitende Psychologin Patricia Fernández, die selbst durch die Pandemie an ihre Grenzen kam. In den Krankenhäusern sitzen aber auch die meisten Gegner der lockeren Pandemie-Strategie in Spanien. Sie sind seit zwei Jahren komplett überlastet und die Leidtragenden der aktuell hohen Inzidenzen. Das betrifft nicht nur die Intensiv-Pflege, sondern auch die primäre Krankenversorgung, wo die Belastung seit zwei Jahren enorm ist. Viele Ärzte melden sich krank oder geben sogar ihren Job auf. Es war schon immer so, dass die Vermittlung zu den Fachärzten in Spanien nicht funktionierte. Jetzt hat sich das Problem verschärft.
Ein Kampf scheint schon mal gewonnen: Ein Gericht in Valencia hat entschieden, dass das medizinische Personal entschädigt werden muss, weil es am Anfang der Pandemie ohne Schutzkleidung arbeiten musste. Das Urteil wird noch einige Prozesse und Debatten in Spanien nach sich ziehen, auch wenn die Politik sich von dem Thema verabschieden will. Spaniens Gerichte erscheinen weniger regierungshörig zu sein als ihre deutschen Pendants.