Tichys Einblick
Kein Recht, nur Macht

Solidarität: Kampfbegriff des EU-Apparats gegen die Souveränität der Mitglieder

Solidarität als Rechtsnorm, wie sich der EuGH anschickt, sie zu interpretieren, hebelt nicht nur die Kernkompetenzen der Nationalstaaten aus. Wenn Werte zu Rechtsnormen werden, zerstört das den Rechtsstaat selbst.

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Seit Dezember 2017 läuft – von der westeuropäischen Öffentlichkeit weitgehend ignoriert – vor dem Gerichtshof der EU ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die EU-Mitglieder Ungarn, Polen und die Tschechische Republik, weil sich diese Länder weigerten und sich weiterhin weigern, die „Anwendung einer rechtsgültigen Unionsmaßnahme“, mit der sie nicht einverstanden sind, zu vollziehen. Es handelt sich dabei um zwei Beschlüsse des Europäischen Rates vom Sommer 2015, die den Mitgliedsländern vorschreiben, 40.000, beziehungsweise später 120.000 Migranten aus Italien und Griechenland „umzusiedeln“, das heißt, in ihren Hoheitsgebieten aufzunehmen. Bei den Prozessen spielte die Tatsache überhaupt keine Rolle, dass die Notlage, auf die sich Unionsmaßnahmen beziehen, von der politischen Führung Deutschlands verursacht wurde, sie wurde einer Naturkatastrophe gleich als gegeben betrachtet.

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Dieser Prozess verdient unsere Aufmerksamkeit, denn sie könnte einen entscheidenden Wendepunkt in der rechtlichen Stellung der Mitgliedstaaten der EU und der Auslegung des EU-Rechts generell bedeuten. Die Beschlüsse 2015 sind nicht einstimmig getroffen worden, obwohl nach eigenen Bestimmungen des Rates Einstimmigkeit erforderlich ist in „Angelegenheiten …, die die Mitgliedstaaten als sensibel betrachten“. Ungarn, Tschechien, die Slowakei und Rumänien betrachteten den Beschluss offensichtlich als sensibel und stimmten gegen ihn, Finnland enthielt sich der Stimme. Dagegen zu stimmen war für Ungarn so wichtig, dass es sogar auf die Umsiedlung von 54.000 Migranten, die sich damals noch auf ungarischem Territorium aufhielten und ursprünglich ebenfalls in das Umsiedlungsprogramm aufgenommen werden sollten, ausdrücklich verzichtete.

Ungarn, Tschechien und später Polen weigerten sich auch nach der Beschlussfassung, deren Vorschriften zu folgen, doch damit waren sie keineswegs allein, denn etliche westeuropäische Länder, die für den Beschluss stimmten, kamen ihren Verpflichtungen ebenfalls nicht nach. Für diese jedoch hatte die Nichterfüllung des Beschlusses keine Folgen.

2017 schließlich klagten Ungarn und die Slowakei vor dem EuGH gegen die Rechtmäßigkeit, insbesondere gegen die Verhältnismäßigkeit der Umsiedlungsbeschlüsse. Sie bezweifelten, dass die Beschlüsse vorübergehenden Charakter hätten. Dies jedoch war die Grundlage dafür, dass die Entscheidungen des Rates als Beschlüsse und nicht als Gesetze gefasst wurden, womit wiederum die Notwendigkeit der Kontrolle durch die nationalen Parlamente ausgehebelt wurde.

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Die Klage wurde abgewiesen, interessanterweise mit einer sehr zweifelhaften rückblickenden Begründung, dass dank der Beschlüsse „Griechenland und Italien … die Folgen der Flüchtlingskrise bewältigen konnten“, und dieser daher „erforderlich und verhältnismäßig war“, soll bedeuten: Das Ziel heiligt die Mittel. Auf den Einwand der Kläger, dass der Beschluss zwar insofern einen vorübergehenden Charakter hatte, als er für zwei oder drei Jahre galt, die Folgen seiner Erfüllung jedoch sehr langfristig sein würden – was sich inzwischen ebenfalls bewahrheitet hat –, ist nicht eingegangen worden. Wenn schon eine rückblickende Begründung, dann hätte sie auch in diesem Falle greifen müssen.

Im gleichen Jahr erhob die EU-Kommission schließlich vor dem Gerichtshof Vertragsverletzungsklagen gegen Polen, Ungarn und die Tschechische Republik, da sie „ihren Verpflichtungen aus Art. 5 Abs. 2 der Umsiedlungsbeschlüsse Zusagen in Bezug auf die Zahl der Antragsteller (Asylanträge von Migranten) zu geben, die in ihr Hoheitsgebiet umgesiedelt werden könnten, nicht nachgekommen“ sind.

Sie hätten keine inhaltlichen Prüfungen von Anträgen vorgenommen und damit Italien und Griechenland nicht unterstützt. Sollten sich die Länder auch nach einer Verurteilung weigern, Migranten nach dem Verteilungsschlüssel aufzunehmen, droht ihnen ein zweiter Prozess, und im zweiten Verurteilungsfall die Verhängung einer gravierenden Geldstrafe, die so lange erhoben wird, bis sich die Beklagten dem Urteil gefügt haben.

Migranten aufzunehmen soll für jedes EU-Mitglied Pflicht werden

Ein Urteil ist bisher noch nicht ergangen, aber der Schlussantrag der Generalanwältin Eleanor Sharpston liegt vor, dem der EuGH vermutlich folgen wird. Hier sei zur bisherigen Tätigkeit Frau Sharpstons nur anzumerken, dass ihre Gutachten immer im Sinne der „Rechte“ von Migranten verfasst waren und bereits katastrophale Folgen für die Auslegung des europäischen Asylrechts hatten. Sie half mit, die Dublin-Regelung über die Registrierung im Erstaufnahmeland auszuhebeln, sie konstruierte den Begriff des „subjektiven Rechts“, das jedem Migranten ermöglichte, gegen die Anwendung der Dublin-Regelungen zu klagen, und behauptete tatsächlich, dass an den Küsten Italiens und Griechenlands so etwas wie illegale Migration gar nicht geben könne, denn wer aus einer Lebensgefahr auf hoher See gerettet werde, könne kein illegaler Migrant sein. Der EuGH folgte ihren haarsträubenden Rechtsbeugungen nicht immer, aber leider oft genug, und es wurde schon angedeutet, dass dies in diesem Falle geschehen werde.

Doch nicht nur deshalb lohnt es sich, den Schlussantrag von Frau Sharpston näher anzusehen. Sie geht darin nicht nur auf die konkrete Argumentation der Beklagten ein, sie macht auch einige prinzipielle Feststellungen, die für die Zukunft der EU von ganz entscheidender Bedeutung sein werden. In erster Linie geht es um den Begriff der „Solidarität“, den sie bemüht ist, zu einer – die staatliche Souveränität einschränkenden – Rechtsnorm zu erheben. Doch die Verwandlung der Solidarität in eine einklagbare – und demzufolge erzwingbare – Rechtsnorm ist brandgefährlich und ebnet den Weg der EU in ein totalitäres Imperium.

Zunächst aber die konkreten Begründungen für die Vertragsverletzungsklage. Als Begründung für ihre Ablehnung der Umverteilung von Migranten argumentierten die Beklagten, „dass die Befolgung der Umsiedlungsbeschlüsse die beklagten Mitgliedstaaten daran gehindert hätte, ihre ausschließlichen Zuständigkeiten für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit wahrzunehmen“.

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Die Ereignisse seit 2015, der teilweise Zusammenbruch der öffentlichen Sicherheit infolge der Gewalttätigkeit vieler Migranten, der steile Anstieg von Straftaten, die in ganz Westeuropa von Migranten begangen wurden, bestätigen einer Illustration gleich die Richtigkeit der Argumente, die von den Beklagten hervorgebracht wurden. Die Antwort der Generalanwältin ist in Anbetracht dieser Tatsachen geradezu absurd: Die Beklagten hätten ja das Recht gehabt, jeden Migranten zu kontrollieren und deren Umsiedlung in entsprechenden Fällen abzulehnen, was mittels vertrauensvoller Zusammenarbeit unter den EU-Behörden möglich gewesen wäre. Wie wirksam diese „vertrauensvolle Zusammenarbeit“ bisher war, zeigt ein Fall unter vielen, der Fall des Terroristen Anis Amri.

Auch das Argument, die erzwungene Migration gefährde den sozialen und kulturellen Zusammenhalt der betroffenen Gesellschaften, wies die Generalanwältin zurück. „Das legitime Interesse der Mitgliedstaaten an der Bewahrung des sozialen und kulturellen Zusammenhalts könne zudem durch andere, weniger restriktive Mittel als eine einseitige und vollständige Weigerung, ihren unionsrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, wirksamer geschützt werden.“

Aus heutiger Sicht braucht man diesem Argument der Generalanwältin verbal gar nicht erst zu widersprechen, auch hier sprechen die Tatsachen längst für sich. Aber die Anmaßung des Gerichtshofs, die tradierten sozialen und kulturellen Eigenheiten der Mitgliedsländer und ihre Bedürfnisse unhinterfragt und ohne Einzelfallprüfung den Beschlüssen von EU-Bürokraten unterzuordnen, weisen in eine sehr gefährliche Richtung.

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Noch gefährlicher ist allerdings die Richtung, die die Generalanwältin in ihrem Schlussantrag mit der Erhebung der Solidarität zu einer juristischen Norm, das heißt, ihrer Konstitutionalisierung, einschlägt. Sie behauptet, Solidarität als Norm habe eine lange Tradition in der EU, was keineswegs den Tatsachen entspricht. Im Gegenteil, die Vorgänge um die Zwangsumverteilung 2015 markieren eine neue Ära – dazu kommen wir weiter unten. Schon die Einführung von Quoten für Stahl oder Zucker in der EWG seien Beschlüsse gewesen, die von den Mitgliedern Opfer, also Solidarität verlangt hätten, behauptet Sharpston, und von hier zieht sie unbekümmert den Bogen zu der Erzwingung der Aufnahme von Migranten – ein Unterschied besteht da für sie nicht. Im Gegenteil, sie behauptet, es sei in der EU und ihren Vorläuferorganisationen immer schon so gewesen, dass sich die Mitglieder solidarisch dem Gesamtinteresse beugen mussten. Wer dieses Gesamtinteresse bestimmt, wird nicht ausgeführt. Dann fährt sie fort:

„Solidarität ist das Lebenselixier des europäischen Projekts. Durch die Teilnahme an dem Projekt und ihrer Mitgliedschaft in der Europäischen Union haben die Mitgliedsländer und deren Staatsbürger Verpflichtungen und Vorteile, Pflichten und Rechte. … Es ist erforderlich, kollektive Verantwortlichkeiten und Lasten auf sich zu nehmen, um das gemeinsame Wohl zu fördern. (…)

Die Achtung der Regeln des Klubs und die entsprechende Teilnahme an der Solidarität mit den europäischen Gefährten kann nicht auf knausriger Erbsenzählerei und auf Kosten-Gewinnrechnungen beruhen (leider von der Rhetorik des Brexit bekannt), und auf Fragen wie, was kostet mich die EU pro Woche, und was genau bekomme ich heraus, reduziert werden. Solch ein Egoismus ist ein Verrat an den Visionen von einem friedlichen und wohlhabenden Kontinent der Gründungsväter. Wenn das europäische Projekt gedeihen und voranschreiten soll, müssen sich alle besser verhalten als bisher.“

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Wenn die Unterordnung unter das vermeintliche große „Gemeinwohl“ zum Argument wird, ist höchste Alarmstufe geboten: Denn traditionell geht es dann um die Unterwerfung von Staaten und ihrer Bürger unter fremde Interessen. Und genau darum geht es auch in diesem Fall. Sollte der EuGH Sharpston folgend Ungarn, Polen und die Tschechische Republik der Insubordination schuldig sprechen, weil sie der Solidaritätseinforderung nicht genüge getan haben, beginnt eine neue Ära in der Geschichte der EU. Der Wert Solidarität steht in dieser Interpretation an der Spitze der EU-eigenen Werteskala und überschreibt folgerichtig alle anderen Werte. Sollten diese Behauptungen so unangefochten stehen bleiben, wird das bedeuten, dass zukünftig jedes Mitglied mit Sanktionen gezwungen werden kann, sich Beschlüssen zu unterwerfen, die mit dem Label „Solidarität“ versehen sind und ihre nationale Souveränität entscheidend einschränken. Der schillernde, kaum genau definierbare Begriff Solidarität wird zur universell einsetzbaren Unterwerfungsklausel der EU, womit sich ihr Gebrauch kaum von dem in der Sowjetunion unterscheidet.
Frontalangriff auf die nationale Souveränität

Solidarität ist ein Begriff oder Wert aus dem Bereich der persönlichen Beziehungen. Sie bezeichnet, die freiwillige Bereitschaft, einem anderen Menschen im Notfall uneigennützig beizustehen. Die Grundlagen von Solidarität sind familiäre oder freundschaftliche zwischenmenschliche Beziehungen. Solidarität gibt es auch unter Fremden, dann beruht sie auf dem vorpolitischen Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb einer Gemeinschaft. Die Zugehörigkeit zu einer Nation ist die wichtigste Grundlage für freiwillige Solidarität unter Fremden, das heißt, für die Bereitschaft, das eigene Hab und Gut, und wenn die Bedrohung groß ist, sogar das eigene Leben für den Schutz von Mitbürgern herzugeben.

Die erste Universalisierung über familiäre und vorpolitische Gemeinschaften hinaus erfuhr der Wert Solidarität durch die kommunistischen Ideologen. Da das zum Revolutionssubjekt erklärte Proletariat keine nationale Zugehörigkeit kannte und sich stattdessen als universelle Klasse verstehen sollte, waren die ihm zugehörigen durch die internationale Solidarität aller Proletarier mit einander verbunden, die weit höherwertig war, als die Solidarität innerhalb der Familie.

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Auch unter den von Kommunisten beherrschten Ländern bestand die Pflicht zur Solidarität – von Freiwilligkeit konnte schon lange keine Rede sein –, die dann in Aktionen verwirklicht wurde wie die kollektive Besetzung der Tschechoslowakei 1968 durch mehrere Länder des Ostblocks. Alsbald wurde die Solidaritätspflicht auch auf die Länder der sogenannten „dritten Welt“ ausgeweitet, wo sie im Wesentlichen als Begründung für sowjetische Interventionen diente. Diese Interpretation übernahmen dann die Achtundsechziger mit ihrer Kampfparole „Hoch die internationale Solidarität“ und begründeten damit ihre Zuneigung zu fernen Diktaturen, sobald diese nur antiamerikanisch genug waren. Solidarität gehört seither unter Linken und Universalisten zu den „Beutebegriffen“, wie sie Arnold Gehlen nannte, „die sofort jeden Sachwiderspruch zum Schweigen bringen.

„Das Völkerrecht kennt keine allgemeinen Solidaritätspflichten zwischen den Staaten“, schreibt dagegen der Völkerrechtsprofessor Martin Nettesheim in einer Studie über die Bedeutung der Solidarität im EU-Recht. Auch schufen die Gründungsverträge keine rechtlichen Grundlagen für die verpflichtende gegenseitige Unterstützung, im Gegensatz zu den Behauptungen Sharpstons. Erst der von den drei Ländern abgelehnte Beschluss von 2015 zur Zwangsumverteilung von Flüchtlingen gehe von einer bestehenden „Pflichtensolidarität“ aus, was ein Novum und weiterhin „sehr umstritten“ sei, so Nettesheim.

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„Solidarität ist kein Prinzip, mit dem grundlegendere Strukturgegebenheiten einfach überspielt werden können. Dass inzwischen immer wieder schlagwortartig betont wird, ‚Solidarität ist keine Einbahnstraße‘, ändert an der Maßgeblichkeit der vertraglichen Strukturen nichts. Unklar ist bereits, ob der Rat der EU auf der Basis einer Notfallklausel des EU-Vertragsrechts eine Entscheidung erlassen durfte, mit der wesentliche rechtliche Regelungen des sog. ‚Dublin‘-Systems über die Zuständigkeit über die Gewährung internationalen Schutzes überlagert werden. Unklar ist auch, ob sich der legitime supranationale Herrschafts- und Regelungsanspruch der EU heute schon auf Fragen der Umsiedlung von Menschen zwischen den Mitgliedstaaten bezieht. Die Mitgliedstaaten haben der EU nur begrenzte Kompetenzen übertragen, und jeden Eingriff in die nationale Verfassungsidentität untersagt.“

Wer auf dem Hoheitsgebiet eines Staates siedeln und leben darf, gehört zu den Kernfragen staatlicher Souveränität. Wenn die EU-Führung und ihr wichtigstes Machtinstrument, der EuGH, mit diesem Urteil gegen drei EU-Mitglieder nun versuchen, die Solidarität als verpflichtende Rechtsnorm einzuführen, und ihr die oberste Priorität zu verleihen, verfolgen sie damit das Ziel, durch einen Präzedenzfall die nationale Souveränität der Mitgliedsländer in Zukunft schwerwiegend einzuschränken. Solidarität wird so zum Kampfbegriff, der den Weg zur europäischen Dystopie, zu den Vereinigten Staaten von Europa ebnen soll.

Wertebasiertes Recht zerstört den Rechtsstaat

Nicht nur politisch, auch juristisch gesehen begeben sich die EU und der EuGH, sollten sie Frau Sharpstons Rechtsauslegung folgen, auf ein Minenfeld mit absehbar katastrophalen Folgen für die Rechtssicherheit. Es entstehen Gefahren, weil Werte wie Solidarität nicht an und für sich existieren, sondern gesetzt werden. Sobald eine Gesellschaft nicht entlang von Regeln, sondern von Werten organisiert wird, entbrennt der ständige Kampf darum, welche Werte überhaupt gelten, wie die Rangordnung unter ihnen bestimmt wird, und wer sie bestimmen kann. Ganz offensichtlich bewertet der EuGH und die Führungsbürokratie der EU die Stellung der Solidarität in dieser Rangordnung ganz anders als Polen oder Ungarn und nimmt sich das Recht heraus, diese Bestimmung ohne die Bürger und die Parlamente dieser Länder vorzunehmen. Es ist jedoch die Aufgabe der Gesetzgebung, berechenbare und vollziehbare Regeln zu bestimmen und „den Terror des (…) Wertvollzugs zu verhindern“, schrieb der Jurist Carl Schmitt 1967, und fährt – wie an Frau Sharpston adressiert fort:

„Ein Jurist, der sich darauf einlässt, unmittelbarer Wertvollzieher zu werden, sollte wissen, was er tut. (…) Er müsste mit der neuzeitlichen Wert-Philosophie ins Klare kommen, ehe er sich entschließt, Werter, Umwerter, Aufwerter oder Abwerter zu werden (…)

Die Ereignisse der letzten Tage, der erneute Ansturm von Migranten auf die Außengrenzen der Union lassen die Argumente und den Schlagabtausch dieses Prozesses so erscheinen, als fänden sie in einem von der Zeit und jeder Realität abgesondertem Raum statt. Vielleicht dringt aber die Realität, dass nämlich kein einziges EU-Mitglied inzwischen mehr bereit ist, der selbstmörderischen Politik Merkels zu folgen, in dieses Realitätsvakuum ein, und der EuGH schreckt davor zurück, die angeklagten Länder eindeutig zu verurteilen und wird einen Kompromiss suchen. Auch wenn das geschehen sollte, müssen Demokraten den Entscheidungen und Argumenten des EuGH mehr Aufmerksamkeit schenken. Der Solidaritätszwang soll den Weg zur immer engeren Union ebnen. Er kann jedes Land treffen und wird ausgeübt werden, auch wenn in den Mitgliedsländern die Akzeptanz dafür fehlt.

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