In Neauphle-le-Château, einem Pariser Vorort, versprach Ayatollah Khomeini den Iranern am Vorabend der Revolution vom Februar 1979 den Himmel auf Erden. Dazu gehörten die Gleichberechtigung für Frauen, freie Meinungsäußerung auch für Kommunisten sowie der Verzicht des Klerus auf staatliche Funktionen. Er selbst werde sich in die heilige schiitische Stadt Ghom zurückziehen. Einmal an der Macht, sah die Realität für die iranische Bevölkerung jedoch ganz anders aus. Irans erster liberaler Präsident Bani Sadr stellte Khomeini zur Rede: „Was ist mit deinen Versprechungen in Paris?“ Khomeini antwortete: „Ich bin nicht verpflichtet, mein Wort von gestern zu halten, geschweige denn das von vor ein paar Monaten.“ Nichts offenbart die Taqiyya (Täuschung) khomeinischer Prägung besser als dieses obige Zitat. Das Fetwa (religiöses Gutachten) seines Nachfolgers Ayatollah Khamenei mit dem Wortlaut, der Einsatz von Atomwaffen verstoße gegen islamische Grundsätze, muss in diesem Taqiyya-Kontext gedeutet werden. Europäische Politiker und Iran-Lobbyisten sowie etliche Experten begreifen das jedoch nicht. Der Autor selber war mit einem renommierten deutschen Politikprofessor auf einer Veranstaltung, der mit voller Überzeugung von Khameneis Fetwa beinahe geschwärmt hat.
Schutz gegenüber Ungläubigen
Das theologische islamische Prinzip „Taqiyya“ (Koran Sure 3, Vers 28) ist ursprünglich ein Instrument defensiver Verteidigungsstrategie in gefährlichen Situationen, mit Hilfe dessen sich die Muslime gegen die Ungläubigen schützen sollten. Zum Schutz gegenüber den Ungläubigen sind Lüge, Verheimlichung und Täuschung erlaubt. Die Taqiyya ist unter den Schiiten stärker verbreitet als unter den Sunniten, welche die Mehrheit der Muslime ausmachen. Als Khamenei das Gefühl hatte, dass er mit dem Rücken zur Wand stünde und die iranische Wirtschaft durch stärkere Sanktionen kollabieren würde, ließ er den Hardliner Ahmadinedschad noch in seiner Amtszeit fallen. Danach wurde in kurzer Zeit ein gemäßigter Kandidat, Hassan Rohani, als Präsident hervorgebracht. Er und sein Außenminister Mohammed Dschawad Sarif sollten die Weltpolitiker mit lächelndem Gesicht und sympathischem Auftreten täuschen.
Das Nuklearabkommen von 2015 nebst Aufhebung der Sanktionen hat weder Irans aggressives auswärtiges Verhalten verändert, noch für innenpolitische Reformen gesorgt. Neben den Mullahs selbst waren der syrische Präsident Baschar al-Assad und die Hisbollah die Nutznießer der freigewordenen Gelder. Die iranische Bevölkerung versank immer mehr in Armut und Elend. Naive europäische Politiker und manche Experten halten das Atomabkommen immer noch für eine gute Geste des Irans und prangern Trumps Ausstieg aus dem faktisch defizitären Atomabkommen an. Die Taqiyya der Ayatollahs weist eine andere Qualität auf als gewöhnliche Lügen der Politiker überall auf der Welt. Ein besonderes Merkmal liegt in der Permanenz.
Extremfall unter den autoritären Regimen
Das ungeschriebene Prinzip Taqiyya nebst der in der Verfassung verankerten „Velayat-e Faqih“ (Herrschaft des Rechtsgelehrten) machen die Islamische Republik Iran zu einem einzigartigen politischen System, einem Extremfall unter den autoritären Regimen. „Auto-Theokratie“ ist die richtige Bezeichnung für das politische System der Islamischen Republik Iran – aufgrund der Rolle des Klerus und dessen unbestreitbar mächtigen Einflusses auf die Innen- und Außenpolitik, wegen der Bedeutung von Ayatollah Khamenei, der de facto über der Verfassung steht, aber auch mit Blick auf das politische Handeln regimetreuer nicht-klerikaler Funktionäre in hohen Ämtern und pseudo-demokratischen Elementen (unfreie Wahlen). Irans Regime ist weder nur eine Autokratie noch nur eine Theokratie, sondern eine Kombination von beiden.
Bezeichnend ist die religiös-theologische Ausrichtung der Innen- wie auch der Außenpolitik. In der Innenpolitik sind Religion und Ideologie omnipräsent. Das zeigt sich vor allem an der rigorosen Verschleierungsvorschrift („Hijab“) oder an dem grausamen islamischen Strafgesetz, das etwa öffentliche Hinrichtungen am Kran, Handabhacken, Peitschenhiebe oder Steinigungen legitimiert. Dazu kommt die eklatante Diskriminierung von Frauen und religiösen Minderheiten.
Außenpolitisch nutzte Außenminister Sarif die Corona-Krise, um in Europa die US-Sanktionen als einen inhumanen Akt gegen das Unschuldslamm Iran anzuprangern und sie als Hindernis im Kampf gegen das Coronavirus im Iran darzustellen. Sarif stellte beim IWF einen Antrag auf eine Kredithilfe in Höhe von fünf Milliarden US-Dollar. Dabei beläuft sich allein das Vermögen der Khamenei unterstehenden Stiftungen und Firmenimperien nachweislich auf über einige hundert Milliarden Dollar. Mit einem geringen Teil davon könnte man die Pandemie bekämpfen. Europäische Politiker und etliche Experten ließen sich täuschen.
Naive Hoffnung auf Reformprozess im Iran
Iran-Lobbyisten in Amerika und Europa und naive Experten, von denen einige auch in Deutschland die Bundesregierung und Bundestagsabgeordnete beraten, erwecken die Hoffnung auf Reformprozesse im Iran, um die USA und Europa so von einer Politik abzubringen, die auf einen Regimewechsel abzielt. Das strategische Ziel der Systemlobby ist es, ein fiktives Bild der Islamischen Republik zu vermitteln. Das Ergebnis soll die Aufnahme von Handelsbeziehungen, Technologietransfer und diplomatische Anerkennung durch die internationale Gemeinschaft sein, da sich dann der Iran schnell in einen gemäßigten normalen Staat verwandeln solle. Die Lobbyisten wollen zeigen, dass der Iran ein Staat wie jeder anderer Staat ist und dass es die USA und Israel sind, die sich abnormal verhalten. Das ist die strategische Täuschung, denn selbst Ayatollah Khamenei hat Ende 2019 beteuert, der Iran werde nie „ein normaler Staat“ werden und er werde stets auf der Seite der schwachen Staaten gegen die bestehende ungerechte internationale Ordnung kämpfen.
Europa und insbesondere Deutschland müssen ihre Iranpolitik endlich revidieren. Die Gräueltaten der Mullahs im Iran und ihre destabilisierende Rolle im Nahen Osten müssen mehr mediales Echo finden. Deutsche Medien kritisieren nur Trump und Erdogan. Vier Dekaden „kritischer Dialog“ haben nichts gebracht, weder in Menschenrechtsfragen noch im auswärtigen Verhalten des Iran. Europa muss die falschverstandene Dichotomie zwischen Hardlinern und Reformern im Iran – den falschen Glauben an das Reformpotenzial des Mullahregimes überdenken. Es ist falsch, zwecks der Rettung des fehlerhaften Nuklearabkommens „Verbündete“ der Mullahs zu werden. Einige erfreuliche Anzeichen eines Politikwechsels zeichnen sich im Verbot des Iran-Handlangers Hisbollah und im Verbot des jährlich stattfindenden Al-Quds-Tages (von Khomeini ins Leben gerufen und inbegriffen für die Befreiung Jerusalem) ab. Es war doch grotesk, dass in einem Land wie Deutschland Al-Quds-Demonstrationen in der Hauptstadt stattfanden. Der Weg zu einem dauerhaften Frieden im Nahen Osten würde nur über einen Regimewechsel in Teheran möglich sein, sagte der frühere BND-Chef August Hanning.
Behrouz Khosrozadeh arbeitet als Lehrbeauftragter am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Er veröffentlichte jetzt zusammen mit Mandy Lüssenhop und Savanh Smith „Iran: Der Destabilisator. 41 Jahre Islamische Republik, wie lange noch?“ (Verlag Goethe & Hafis).
Dieser Beitrag erschien zuerst in Die Tagespost. Katholische Wochenzeitung für Politik, Gesellschaft und Kultur. Wir danken dem Verlag für die freundliche Genehmigung zur Übernahme.