Die Sommerpause ist zu Ende, und die EU-Mitglieder haben endlich bestimmt, welche nationalen Politiker sie in die künftige Kommission schicken wollen. Nun ist es an Ursula von der Leyen, das schwierige Puzzle der Verteilung der Kompetenzbereiche zu meistern: Klar, daß ein jeder gerne verantwortlich wäre für Kernbereiche wie „Außenpolitik“ oder „Wirtschaft“ und sich kaum jemand reißt um „Förderung der Europäischen Lebensweise“ oder „Gesundheit und Lebensmittelsicherheit“. Nicht zu vernachlässigen ist auch die Tatsache, daß die von rechts immer noch meist als „Gedöns“ abgetanen Ressortbereiche wie „Umwelt“, „Gleichstellung“ oder „Rechtsstaatlichkeit“ in Anbetracht der inzwischen erfolgten Selbstermächtigung dieser Kompetenzen zu zentralen Motoren des gesamtgesellschaftlichen Umbaus mittlerweile ganz besondere Bedeutung erlangt haben.
Klar aber auch, daß es ein schweres Geschäft ist, die Interessen der „großen“ Mitgliedsstaaten mit denen der „kleinen“ zusammenzubringen – wobei oft genug die „Kleinen“ als Kompromißkandidat im Vorteil sein können, wenn die „Großen“ sich nicht einigen können. Das mag man alles durchaus als „Geschachere“ und „Hinterzimmerpolitik“ brandmarken und mehr „Transparenz“ und „Demokratie“ einfordern, aber dann darf man auf der anderen Seite nicht gleichzeitig den Rückbau der EU zu einem bloßen Staatenbund fordern – denn genau das ist es, was Staatenbünde eben so machen: Sich auf multilateraler Ebene zwischen verschiedenen Exekutiven einigen – mit Absprachen, nicht mit Abstimmungen. Kurzum: Wer keinen parlamentarisch direktdemokratisch legitimierten europäischen Superstaat will, der muß in Kauf nehmen, daß die Spitzenpositionen, die es auch in einem Staatenbund zu verteilen gilt, zwischen den verschiedenen Regierungen ausgeklüngelt werden.
Und da es die Länder sind, die die Kommissare bestimmen, während die Kommissionspräsidentin „nur“ die Zuständigkeit festlegt und das Parlament daraufhin die Kandidaten „prüft“ und gegebenenfalls ablehnt (und somit die Länder zu einer weiteren Nominierung zwingt), spiegeln die Kommissare vor allem die gegenwärtigen Regierungsmehrheiten der Mitgliedsstaaten – und nicht das politisch-korrekte „Juste milieu“ des EU-Parlaments. Kein Wunder, daß deutsche Medien wie die „Welt“ oder die „Frankfurter Rundschau“ sich bereits empören, denn mit dem Italiener Raffaele Fitto, der Melonis „Fratelli“ angehört, geht wohl ein Spitzenamt der EU-Kommission nunmehr sage und schreibe „erstmals“ an einen „Rechtspopulisten“, einen „Ultrarechten“, einen „Rechtsaußen“, ja einen „Rechtsextremen“, wie in bezeichnender terminologischer Unschärfe zu lesen ist. Denn Fitto soll – wie zuerst hier bei TE zu lesen war – zum Vizepräsident der Kommissionsbehörde und zum EU-Kommissar für „Wirtschaft“ mitsamt der Bearbeitung der Corona-Wiederaufbauhilfen – Ressorts, die von Meloni angestrebt wurdne, wie TE früh berichtete – werden, traut man einigen ersten Gerüchten, die gerade in der „Welt“ zirkulieren; welch ein „Paukenschlag“, wie dort zu lesen ist! Nun sind diese Vorwürfe natürlich absurd.
Zum einen ist die Bezeichnung der Fratelli d’Italia als „Rechtsextreme“ insoweit ein grauenhafter Unfug, als man in diesem Fall auch die SPD und große Teile der CDU mit Fug und Recht als „Linksextreme“ bezeichnen könnte (von den Grünen ganz zu schweigen). Außerdem ist Fitto alles andere als ein politischer Unbekannter: Seine Karriere begann bei den Christdemokraten, bevor er sich der Partei des ehemaligen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi anschloß und dann den „Fratelli d’Italia“ beitrat; unter anderem amtierte er als Präsident der Region Apulien, als Minister für regionale Angelegenheiten und Kohäsionspolitik, als Mitglied des Europäischen Parlaments, als Co-Vorsitzender der EKR und bis heute als Minister für europäische Angelegenheiten und Leiter des italienischen Wiederaufbauplans – ein langgedienter, hochkompetenter und ideologisch überaus moderater Politiker, über den man sich in deutschen Redaktionsstuben alles andere als echauffieren sollte.
Zum anderen ist der historische Horizont der besagten deutschen Journalisten offensichtlich überaus begrenzt: Zählt man die „Fratelli“ zu den „Rechtspopulisten“ oder gar den „Rechtsextremen“, sollte man das mit derselben Logik sicherlich auch bezüglich der polnischen „PiS“ tun (was ja auch regelmäßig in den Qualitätsmedien geschieht) – und die stellte in der letzten Kommission mit Janusz Wojciechowski den Landwirtschafts-Kommissar und kontrollierte somit eines der wichtigsten und finanzschwersten Ressorts. Und ist nicht auch Ungarns „Fidesz“ in der modernen Terminologie „rechtspopulistisch“? Sie stellte in der letzten Kommission mit Olivér Várhelyiden den Kommissar für „Nachbarschaft und Erweiterung“ – und in der vorletzten mit Tibor Navracsics den Kommissar für „Bildung und Kultur“. Und natürlich ist sie auch wieder in der neuen Kommission anwesend, übrigens erneut mit Várhelyiden. Also: Alles wieder einmal halb so wild und wie üblich eher peinlich für den deutschen Journalismus als für die reale Welt da draußen.
Wie sieht der Rest der Kommission aus? Wie üblich in der EU gibt es keine großen Überraschungen. Deutschland war durch die Kommissionspräsidentin von der Leyen (EVP) ja schon „bedient“, und Estland stellt, wie schon länger bekannt war, mit der liberalen Politikerin Kaja Kallas (ALDE) die EU-Außenbeauftragte. Was bleibt? Hier ist die gesamte Liste, geordnet nach Ländern und europäischen Parteien – und den Zuständigkeiten, solange sie bereits in die Presse durchgesickert sind (was sich natürlich bis nächste Woche durchaus noch ändern könnte).
- Belgien: Hadja Lahbib (Renew)
- Bulgarien: Ekaterina Zaharieva (EVP) oder Julian Popov (Renew) (Bulgarien hat zwei Kommissare zur Auswahl nominiert)
- Dänemark: Dan Jørgensen (S&D)
- Deutschland: Ursula von der Leyen (EVP) – Kommissionspräsidentin
- Estland: Kaja Kallas (Renew) – Außen- und Sicherheitspolitik
- Finnland: Henna Virkkunen (EVP)
- Frankreich: Thierry Breton (Renew): Industrie
- Griechenland: Apostolos Tzitzikostas (EVP)
- Irland: Michael McGrath (Renew)
- Italien: Raffaele Fitto (ECR) – Wirtschaft
- Kroatien: Dubravka Šuica (EVP)
- Lettland: Valdis Dombrovskis (EVP) – EU-Erweiterung und Wiederaufbau Ukraine
- Litauen: Andrius Kubilius (EVP)
- Luxemburg: Christophe Hansen (EVP)
- Malta: Glenn Micallef (S&D)
- Niederlande: Wopke Hoekstra (EVP) – Handel
- Österreich: Magnus Brunner (EVP)
- Polen: Piotr Serafin (EVP) – Haushalt
- Portugal: Maria Luís Albuquerque (EVP)
- Rumänien: Roxana Minzatu (S&D)
- Schweden: Jessika Roswall (EVP)
- Slowakei: Maroš Šefčovič (S&D) – Bürokratieabbau und interinstitutionelle Fragen
- Slowenien: Tomaž Vesel (parteilos)
- Spanien: Teresa Ribera (S&D) – „Transition“ im Bereich Ökologie, Soziales und Digitales
- Tschechische Republik: Jozef Síkela (EVP) – Energie
- Ungarn: Olivér Várhelyi (Patrioten)
- Zypern: Costas Kadis (parteilos)
Wie kann man diese Kommission in ihrer Gesamtheit bewerten? In den Medien wird natürlich der Frauenanteil zum einzig ausschlagkräftigen Kriterium hochstilisiert: Die neue Kommission enthalte ja (je nach Zählung) „nur“ 10 Frauen und nicht die erforderlichen 13,5. Das ist ein typisches Ablenkungsmanöver: Glaubt jemand ernsthaft, das Geschlecht entscheide über „gute“ oder „schlechte“ Politik? Und ist es nicht Sache der Mitgliedstaaten, wie sie ihre eigene Geschlechterquote regeln? Muß Zypern jetzt eine Frau nominieren, weil die Tschechen einen Mann wollen? Und außerdem: Ist das Geschlecht nicht ohnehin eine fluide, von heute auf morgen neu zu entscheidende Sache, wie ja spätestens seit April 2024 durch das „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag“ jedem Deutschen klar sein sollte? Vielleicht entscheiden ja einige männliche Kommissare in den nächsten Wochen, daß sie nun doch Frauen sind, und der Skandal löst sich in Wohlgefallen auf.
Interessanter für echte und nicht nur Symbolpolitik wird es, wenn wir einen Blick auf die Parteienverteilung werfen: Die Christdemokraten der EVP kontrollieren (je nach Zählung der Situation Bulgariens) mit 14 Kommissaren mehr als die Hälfte der Kommission und haben Zugang zu Schlüsselstellungen wie der Präsidentschaft, und sie kontrollieren über Roberta Metsola auch die Präsidentschaft des EU-Parlaments. Die Sozialdemokraten folgen weit abgeschlagen mit 5 Kommissaren, die Liberalen mit 4, die „Patrioten“ (ehemals ID) und die EKR mit jeweils einem Kommissar, und zwei weitere gelten als „parteilos“. Die Grünen gehen leer aus. Das macht aber letztlich nichts, denn nicht nur in Deutschland sind die Christdemokraten weit über die „Mitte“ hinaus nach linksgrün gerutscht und befinden sich zudem in verschiedensten Bündniskonstellationen mit den anderen „demokratischen“ Parteien im Kampf gegen die jeweilige Gefahr des „Rechts-irgendetwas“. Auch ohne Grüne kann man also darauf zählen, daß die Kommission weiterhin zumindest identitätspolitisch – und das ist mittlerweile alles, was zählt – eine stramm linke Politik verfolgen wird, umso mehr als mit Ursula von der Leyen eine Einpeitscherin vorhanden ist, die beständig auf die deutsche Öffentlichkeit schielt.
Interessant ist auch, daß die demographisch „Großen“ sich durchaus freimütig selbst bedient haben und von der Leyen die Kompetenzen ganz klar im Hinblick auf die jeweilige Parteizugehörigkeit verteilt hat: Deutschland behält die Zügel der Kommission in der Hand, Frankreichs Regierungspartei behält wie in der letzten Kommission die Industrie, Spaniens Sozialisten bekommen die Öko-Transformation des Kontinents, das „neue“, ach-so-demokratische Polen Tusks den Schlüsselbereich des EU-Haushalts, die Niederlande den Handel (der Kommissar gehört ja der EVP an und nicht Geert Wilders „Rechtspopulisten“) – und das Italien Melonis hat sich soweit zum neuen Stabilitätsanker inmitten des krisengeschüttelten Europas gemausert, daß von der Leyen im Hinblick auf ihre mögliche gelegentliche Abhängigkeit vom EKR eben besagtem „Rechtsextremen“ die Wirtschaft anvertrauen muß. Zwar entschied sich Meloni damals schließlich dagegen, von der Leyens Kandidatur für die Kommissionspräsidentschaft zu unterstützen, da diese ihrer Absicht nach zu sehr auf die Zustimmung der Grünen schielte; und in der Tat gelangte sie auf ihr Amt dank der „Brandmauerkoalition“ der EVP mit den europäischen Liberalen, den Sozialdemokraten und den Grünen. Ganz auszuschließen ist es aber nicht, daß die EVP immer einmal Stimmen von rechts benötigen könnte, wenn die Grünen wegfallen, und so will man sich EKR und Italien auf jeden Fall warmhalten, auch im Hinblick auf die Ukraine-Politik – kein Wunder, daß die EKR auch zwei der 14 Parlamentsvizepräsidenten erhielt, und die neue Fraktion der „Patrioten“ Orbans und Le Pens (aka „ID“) keinen.
Das letzte Wort ist freilich noch nicht gefallen: Erst müssen die letzten Kompetenzen vergeben werden, dann die einzelnen Kommissare vor dem Hohen Haus des EU-Parlaments hochnotpeinlich befragt werden – und dann wird man sehen, ob nicht doch noch ein paar Überraschungen zu vergegenwärtigen sind.