Laut einer internen Einschätzung deutscher Sicherheitsbehörden wächst die Sekundär-Migration innerhalb der EU derzeit stark an. Griechenland, das nach wie vor durch zahlreiche, vielfach abgewehrte illegale Grenzübertritte aus der Türkei belastet ist, steht hier im Fokus. Inzwischen sind mehr als 40.000 Menschen in der Bundesrepublik, die in Griechenland bereits einen Schutzstatus erhalten haben und hierzulande erneut einen Asylantrag stellten. Sie nutzen die Bewegungsfreiheit im Schengen-Raum, auch wenn ihre Reisen dabei eigentlich auf 90 Tage begrenzt sind. Doch Abschiebungen nach Griechenland scheinen zur Zeit nicht opportun.
Zum Einsatz kamen auch wieder einmal gefälschte Pässe. Eine Syrerin gab sich als die Mutter der Kinder aus. Allerdings riskierte man auch, dass die Kinder am Ende in einem Erstaufnahmezentrum landeten. Das Ganze mutet schon seltsam an: Nachdem Familien aus Drittländern zuerst ihre jungen Männer vorschickten, sind nun offenbar die Kinder dran, ihren Eltern das Eintrittsbillett nach Deutschland zu verschaffen – denn natürlich dürfte dieser Familiennachzug das eigentliche Ziel der Einschleusung gewesen sein. In Griechenland wurde ein Syrer festgenommen, in Deutschland begnügte man sich vorerst mit vier Hausdurchsuchungen in Minden und Halle.
Interesse ist gut, Kontrolle wäre besser
Der Guardian wies kürzlich auf einen weiteren Passfälscherring hin, durch den sogar IS-Kämpfer in die EU und die USA geschleust würden. Das Analyse- und Strategiezentrum zur illegalen Migration spricht von einer „neuen Dimension“, was diese zweite, eindeutig illegale Form der Sekundärmigration angeht. Tatsächlich stammen gut die Hälfte der Asylerstanträge in Deutschland von Personen, die das Ersteintrittsland unbemerkt von den Behörden durchreisten beziehungsweise sich durch es hindurch schmuggeln ließen, wie das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) Anfang des Jahres berichtete. Die Schlepperbanden scheinen hier immer neue, raffiniertere Wege zu finden. Die Sicherheitsbehörden hecheln ihnen derweil hinterher.
Insofern ist es gut, wenn die im Gasim vertretenen deutschen Behörden ein Auge auf diese Dinge haben. Doch was nützt es, wenn die politische Führung sich nicht dafür interessiert? Das ist vor allem im Fall jener Sekundärmigranten der Fall, die legal nach Deutschland eingereist sind, aber trotzdem kein Recht auf einen deutschen Asylantrag haben. Interesse der Sicherheitsbehörden ist gut, eine Stärkung ihrer Fähigkeiten und Mittel wäre besser.
Die Argumentation verschiedener Gerichte, in Griechenland würde es den Migranten am Mindesten fehlen, sticht dabei ins Zentrum des Problems hinein: Denn die Migranten tauchen vor allem deshalb in Griechenland auf, weil sie das Wohlstandsversprechen Westeuropas und vor allem der deutschen Politik gehört haben. Logisch ist, dass sie am Ende auch in Deutschland oder einem anderen westeuropäischen Land ankommen, wo sie die Erfüllung des Versprechens erwarten. Der von Orbán vorgeschlagene Korridor ist längst Realität.
Warum entscheiden deutsche Gerichte über Wirtschaftschancen in Griechenland?
Derweil sorgen die Asylanträge der Sekundärmigranten für eine Art kognitive Störung im deutschen Asylsystem. Derzeit werden sie noch immer nicht bearbeitet, sondern sind – seit Horst Seehofers Tagen – „rückpriorisiert“. Die deutschen Behörden wissen nicht, was sie an dieser Stelle tun sollen. Es ist die Schnappatmung eines Systems, das ins Grübeln darüber kommen müsste, worin der übergreifende Sinn des eigenen Handelns liegt, das aber schlicht weiterläuft und eine Art Kurzschluss erleidet.
Die äußerlich und anfänglich (nämlich als Urlaubsreise) „legale“ Sekundär-Migration der ersten Art müsste sich in der Weise abflachen, in der auch die offiziellen Asylzahlen in Griechenland zurückgehen. Der griechische Migrationsminister Notis Mitarakis hat sich wiederholt dazu geäußert. So berief er sich gegenüber der Welt schon im letzten Jahr auf einen „gemeinsamen Schutzraum“ EU und sprach auch die Niederlassungsfreiheit in diesem Raum an. Das griechische Sozialsystem kann sich in der Tat kaum mit dem deutschen messen, und das nicht erst seit der Staatsschuldenkrise.
Illegale Einreisen aus der Türkei: Die EU schaut zu
Zugleich hat sich aber auch eine EU-finanzierte Wohlfahrt als trügerisch erwiesen: Millionen Euro aus einem EU-Topf zur Errichtung von Sozialwohnungen für anerkannte Asylbewerber landeten bei einer regierungsnahen griechischen NGO. Von der in Rede stehenden NGO „Hopeten“ (früher „Hopeland“) wurden demnach gerade einmal 1.002 Migranten im Rahmen des EU-geförderten Projekts „Estia“ untergebracht. Allerdings flossen dafür im Jahr anscheinend mehr als fünf Millionen Euro. „Goldene Wohnungen“ titeln griechische Medien über den Fall, der auch in Griechenland nicht die Aufmerksamkeit bekam, die ihm gebührt. Der Fall zeigt, dass das Aufpfropfen eines EU-finanzierten Sozialstaats für Asylbewerber in Griechenland nicht gelingen kann. Es gelang dem deutschen Innenministerium noch weniger, vor allem weil es verständliche Widerstände bei den Bürgern gegen ein solches Extra-Wurst-System gibt.
Die illegale Migration via Griechenland bleibt ein Problem, auch weil man aus Deutschland die griechische Grenzschutzpolitik weniger unterstützt, denn mit „Pushback“-Kritik versieht. Was die Polen dank eines nationalen Gesetzes dürfen – an der Landgrenze zurückweisen –, setzt man zwar auch in Griechenland um, doch zum offiziellen Gesetz mag man es nicht machen. Darin besteht eine Schwäche der konservativen Regierung gegenüber kritischen Stimmen aus der EU ebenso wie gegenüber der illegalen Migration zu Land und zu Wasser.
Auch die Türkei selbst propagiert die illegalen Einreisen relativ offen. Türkische Medien beklagen die Zurückweisung von Migranten in der Ägäis: Fast 24.000 illegale Migranten hat die Türkei letztes Jahr demnach in ihren eigenen Gewässern „gerettet“, als ob eine Erschwerung dieses Schleppergeschäfts nicht möglich wäre und Menschenleben wirksam schützen würde.
Ein anderer Vorfall an der Evros-Grenze führte zu einer kritischen Wortmeldung der EU-Innenkommissarin, die nach den „Fakten“ fragt. Dabei sind diese sehr klar: Auf türkischem Territorium starben zwölf Migranten, die illegal nach Griechenland einreisen wollten. Nichts dürfte für die türkischen Behörden leichter sein, als solche Migranten rechtzeitig davon abzuhalten, bis an diesen Punkt im äußersten Westen des Landes vorzudringen. Ylva Johansson sprach von „schrecklichen Todesfällen in der Türkei, nahe der griechischen Grenze“, als ob die Nähe eine Verantwortung der griechischen Seite mit sich brächte. Es ist die türkische Regierung, die es noch immer nicht schafft, die Migrationsströme zu kontrollieren, obwohl dafür bereits Milliarden Euro an EU-Mitteln geflossen sind.
Gemeinsame Räume, die nicht gut definiert sind
Hinzu kommt schließlich ein ganz besonderer Vorgang: Notis Mitarakis machte jüngst seinen wohl ersten Besuch in Pakistan. Er wurde dort von Premierminister Imran Khan empfangen und verabredete die Stärkung der legalen Migration von Pakistanis nach Griechenland. Auch mit Bangladesch wurde eine ähnliche Abmachung getroffen. Die pakistanische Gemeinde ist schon heute eine Größe in Griechenland, und das Abkommen wird somit breit kritisiert. Warum schließt man es ausgerechnet mit einem engen Verbündeten der Türkei? Die Pointe für deutsche Verwaltungsgerichte ist aber: Selbst Griechenland kann den wenig bis gar nicht gelernten Afghanen nichts abgewinnen. Für Pakistaner scheint es aber Arbeitsmöglichkeiten zu geben.
Und so zeigt sich an allen Ecken und Enden die Verstrickung der EU-Partner durch gemeinsame Räume, die letzten Endes nicht gut definiert sind. Besonders deutlich wird dies bei der illegalen wie legalen Sekundär-Migration, weil jeder Migrant als konkreter Widerhaken im Handeln der Verwalter wirkt. Ihn kann man nicht mit Geldbeträgen ausgleichen oder wegverhandeln. In seiner Anwesenheit – zumal an den Orten, an denen er nicht sein dürfte, an jenen Linien, die er eigentlich nicht überschreiten dürfte – zeigt sich die Dysfunktionalität der EU.