Tichys Einblick
Irrsinn aus England

Shakespeare und die Kolonien, die es nie gab

Winnetou, Udo Jürgens, Harald Schmidt und Otto: Der Warnhinweis-Wahn ist ein wichtiges Instrument von Deutschlands Neo-Puritanern bei der Volkszwangsumerziehung. In England ist jetzt gar Shakespeare dran.

IMAGO / Depositphotos

Stratford-upon-Avon ist ein selbst für britische Verhältnisse exzentrischer Name. Das Örtchen liegt im Herzen Englands und hat weniger als 25.000 Einwohner. Niemand würde es kennen – wäre es nicht die Geburtsstadt von William Shakespeare.

Wer Stratford-upon-Avon einmal versehentlich besucht, fühlt sich sofort an Salzburg erinnert. Denn so, wie die österreichische Musikstadt ihren größten Sohn – Mozart – zum absoluten Zentrum der Selbstdarstellung macht, so tut das auch der kleine Flecken Erde in England.

Stratford-upon-Avon lebt vom Shakespeare-Tourismus. Selbst Parkbänke, auf denen der Nationaldichter bei irgendeinem Spaziergang irgendwann einmal kurz gesessen haben soll, tragen ein glitzerndes Messingschild, das dieses historische Ereignis für alle Ewigkeit festhält. (Ob der Mann die Sitzgelegenheit oder auch nur den Park drumherum jemals wirklich auch nur von Ferne gesehen hat, weiß natürlich sowieso niemand.)

Zweieinhalb Millionen Touristen zieht der Shakespeare-Kult jedes Jahr an. Wir rechnen kurz nach: Das sind also hundertmal mehr, als das Städtchen Einwohner hat. Auf jeden Bürger, vom Säugling bis zum Greis, kommen demnach jedes Jahr 100 Besucher. Davon lebt der Ort, und von nichts anderem.

Stratford-upon-Avon ist Shakespeare.

Solche schnöden wirtschaftlichen (und also existenziellen) Zusammenhänge im Leben einfacher Bürger sind der zeitgenössischen woken Internationale allerdings bekanntermaßen schnuppe. Selbst Shakespeare im beschaulichen Stratford-upon-Avon ist vor dem Gesinnungsfuror der linken Geschichtsrevisionisten nicht sicher.

Und so ist die städtische Shakespeare-Stiftung jetzt auf eine Idee gekommen, auf die nur steuerfinanzierte Berufsideologen ohne jeden Kontakt zum echten Leben echter Menschen kommen können: Man will die jährlichen Gedenkfeiern für den größten englischsprachigen Dichter der Geschichte „dekolonisieren“.

Shakespeare solle für seine „kolonialen Einstellungen“ geradestehen. Denn die Erzählung von William als Universalgenie „fördere die Ideologie der weißen europäischen Vorherrschaft“. Der Schöpfer von „Romeo und Julia“ sei als Symbol „britischer kultureller Überlegenheit“ und „anglo-kultureller Vorherrschaft“, also einer „kolonialen Prägung“ durchgesetzt worden. Die Shakespeare-Verehrung sei Teil einer „weiß-anglozentrischen, eurozentrischen und zunehmend ‚westzentrischen‘ Weltanschauung, die auch heute noch Schaden anrichte“.

Aha.

Die Stiftung empfiehlt, Stratford-upon-Avon künftig weniger auf Shakespeare zu fokussieren – also weniger auf den Mann, dem ganz allein genau diese Stiftung bis heute ihre Existenz verdankt und der (bei allem Respekt) der einzige Grund ist, weshalb sich irgendjemand jemals in den Ort verirrt.

Das Ganze folgt einem Trend. Das Globe Theatre in London hatte jüngst eine Seminarreihe mit dem Titel „Antirassistischer Shakespeare“ veranstaltet. Damit sollte die Auseinandersetzung mit dem Thema Rasse in seinen Stücken gefördert werden. Schließlich ist „Othello“ ja eine schwarze Figur.

Die modernen Bilderstürmer des Wokismus fordern zwar jedermann dazu auf, Shakespeare gefälligst „postkolonial“ zu lesen. Aber leider haben sie selber es erkennbar verabsäumt, Shakespeare überhaupt erstmal zu lesen.

Denn Othello ist in dem gleichnamigen Drama ein zwar krankhaft eifersüchtiger, aber ansonsten ehrenhafter Mensch. Zum Mord an seiner Frau wird er durch zahlreiche Lügen von dem durch und durch niederträchtigen Intriganten Jago getrieben. Der ist, Überraschung, ein Weißer.

Neben den ökonomischen Folgen einer „Dekolonisierung“ des angeblichen Rassisten Shakespeare begegnen wir hier der zweiten größeren Schwäche in der Argumentation der Leute von der Shakespeare-Stiftung: Es mangelt ihrem Projekt an der, sagen wir mal: geschichtlichen Präzision.

Denn Shakespeares Dramen und Komödien handeln zwar auch in verschiedenen Ländern außerhalb Englands – in Venedig zum Beispiel („Der Kaufmann von Venedig“) oder in Dänemark („Hamlet“). Aber kein einziges Stück und kein einziger Text spielt in einer englischen Kolonie.

Das hat einen guten Grund: Shakespeare wurde 1564 geboren und starb 1616. Sein letztes Werk schrieb er nach übereinstimmender Ansicht von Literaturhistorikern im Jahr 1606. Die aller-aller-aller-erste englische Kolonie entstand aber erst 1607: Jamestown im heutigen US-Bundesstaat Virginia.

Im Jahr 1606 herrschte England über fast nichts als die britischen Inseln. Und es war tatsächlich noch England: Das Vereinigte Königreich, das dann später zu einem Weltreich werden sollte, wurde mit der Vereinigung von England und Schottland erst 1707 gegründet. Um die vollständige Kontrolle über Irland kämpfte England da sogar noch.

Da war der Dichter schon 90 Jahre tot.

Nun stellt sich die Frage, wie man Shakespeare denn eigentlich „dekolonisieren“ will – wenn es zu seinen Lebzeiten noch gar keine Kolonien gab. Keine einzige. Denn den woken Geschichtsexperten von der Shakespeare-Stiftung geht es erkennbar nicht um Schottland oder Irland.

Auch beim nächsten Schlüsselwort „Rassismus“ sind die Shakespeare-Missversteher in der Shakespeare-Stiftung erschütternd kenntnisfrei: England brachte die ersten Sklaven in seine erste Kolonie Jamestown im Jahr 1619. Da war der Dichter schon drei Jahre tot.

Bis in die 1640er-Jahre kamen mehr europäische Sklaven nach Nordafrika als afrikanische Sklaven nach Amerika. Und es gab auch weit mehr britische Sklaven in Afrika als afrikanische Sklaven in britischen Kolonien. Die Royal African Company, die ein Monopol auf den transatlantischen Sklavenhandel erhielt, wurde erst 1660 gegründet.

Natürlich war Shakespeare, wie jeder Schriftsteller, ein Mensch in seiner Zeit und an seinem Ort. Entsprechend hatte er, wie alle großen Denker vor ihm und nach ihm, auch zeittypische Vorurteile und Weltanschauungen. Aber er war ganz sicher kein Kolonialist – im Gegenteil: In seinem Werk ist er vielleicht der letzte große Vertreter des vorkolonialen Englands.

Er las auch keine englischen Romane, weil es (mit Ausnahme der „Canterbury Tales“) noch gar keine gab. Shakespeare war nicht die Stimme einer hegemonialen oder kolonialen Kultur. Im Gegenteil: Er war die Stimme einer Insel, die in den Hauptstädten des kontinentalen Europas bis dahin fast keine kulturellen Spuren hinterlassen hatte – am wenigsten in der Kunst.

Da ist man geneigt, sich dem britischen Publizisten Dan McLaughlin anzuschließen. Der hat sich der Posse in Stratford-upon-Avon in einem großartigen Aufsatz gewidmet. Aus tiefstem Herzen stellt er da den geschichtslosen Kunstbanausen in Shakepeares Geburtsstadt eine unbritisch direkte Frage:

„Was seid Ihr für Idioten?“


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