Das Eindrücklichste in der österreichischen Politik ist für mich die Beharrlichkeit, mit der Sebastian Kurz sich dem Zeitdruck der Medien erfolgreich verweigert. Mit allen Parteien „Sondierungsgespräche“ passte vor allem dem ORF, aber auch den anderen nicht. Kurz und sein Team sondieren mit dem der Grünen von Werner Kogler die zweite Woche. Inzwischen haben die Journalisten es aufgegeben, diesen Ablauf verkürzen zu wollen und haben knurrend akzeptiert, dass Kurz erst am 8. November entscheiden will, mit wem seine Neue Volkspartei in Koalitions-Verhandlungen eintreten möchte.
Die Politmeldungen werden in diesen Tagen von Belastungen der FPÖ aus ihren engen Verbindungen zu Burschenschaften geprägt, die für Kenner dieses Milieus seit Jahrzehnten nichts substantiell Neues sind, aber das Bild einer nicht handlungsfähigen Partei und vor allem Führung durch Norbert Hofer vermitteln. Interessierten empfehle ich dazu, was Ferdinand Wegscheider in seinem letzten Wochenrückblick auf Servus TV sagte. (Neu an dem Verhältnis Burschenschaften und FPÖ ist allein, dass die Zahl der Burschenschafter als Funktionäre der FPÖ unter der Führung von Heinz-Christian Strache erheblich zugenommen hat.)
Alles andere als die Entscheidung der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen mit den Grünen am bevorstehenden Freitag würde mich überraschen. Denn, mit wem sonst soll Kurz verhandeln? Die FPÖ hat sich – jedenfalls für längere Zeit – selbst als möglichen kleineren Partner ausgeschlossen. Die Neos sind handlungsfähig, aber mit ihnen zusammen reicht es nicht für eine Mehrheit. Die geschrumpfte SPÖ bleibt Kurz als Notnagel für den Fall, dass er mit den Grünen doch nicht zusammenkommt, weil sie sich im Detail nicht einig werden oder auch, weil der Parteitag der Grünen das Verhandlungsergebnis ablehnt.
In der Bevölkerung – zumindest in befragten Teilen derselben – ist die Akzeptanz einer türkis-grünen Regierung offensichtlich vorhanden, bei der Kurz den Grünen bei der sogenannten Klimapolitik entgegen kommen müsste (Kurz: ja, aber mit Hausverstand) und Koglers Grüne Kurz bei der Migrationsfrage: „57 Prozent der Befragten wollen, dass die Grünen in Sachen Migration einschwenken, beim Klima sind ebenfalls 57 Prozent der Meinung, die ÖVP sollte hier nachgeben.“
Seinen Anhängern erklärte Kurz den Stand der Dinge am 1. November schriftlich und per Video:
Ob Österreich noch vor Weihnachten und damit in diesem Jahr eine neue Regierung kriegt, steht nicht fest. Eher lässt sich Kurz weiter in aller Ruhe Zeit. Welche Regierung das dann ist, steht für mich auch nicht fest. ORF und Co. werden weiter Geduld üben müssen. Das tut dem Klima im Lande gut – dem politischen und gesellschaftlichen. Das Wetter macht ohnedies, was Mutter Natur will und nicht, was Politik und Medien möchten – gottseidank.
Lesern in Deutschland empfehle ich, nicht mit der deutschen Brille nach Österreich zu schauen. Da ist sehr wenig eins zu eins vergleichbar – nicht erst jetzt. Die einzigen wirklich ähnlichen Parteien sind SPÖ und SPD. Es kann sehr gut sein, dass Kurz einfach mit seinem anderen Umgang mit den alten und neuen Medien die Politik in Österreich verändert statt mit Parteiprogrammen und anderen alten Methoden.