Tichys Einblick
Koalitionsverhandlungen und parallele Übungen

Sebastian Kurz: strategische Inszenierung und inszenierte Strategie

Auch wenn alles so aussieht, als liefe es glatt auf eine türkis-grüne Regierung hinaus, steht weder das fest, noch wie lange eine solche hielte. Dafür dass Kurz das Heft in der Hand behält, spricht hingegen alles.

HELMUT FOHRINGER/APA/AFP via Getty Images

In sechzig Jahren als interessierter Beobachter von Politik und zwanzig als Mitwirkender habe ich so etwas noch nicht erlebt, was zur Zeit in Österreichs Bundespolitik stattfindet. Doch bevor ich dazu komme, ein paar Vorbemerkungen nicht nur, aber besonders für deutsche Leser.

Ein Leser, der regelmäßig auf TE kommentiert, schrieb neulich auf meinen Beitrag zu Sebastian Kurz in Sondierungen mit den österreichischen Grünen, Kurz wäre auch nur ein Berufspolitiker, der sonst nichts könne. Damit interpretierte er zweierlei  an meiner Sicht vom Parteienstaat und von der Person Kurz falsch. Dass mein Text über Kurz nicht negativ war, bedeutet nicht, dass ich ein Fan des Österreichers bin, was schon deshalb nicht geht, weil ich mich als Fan von öffentlichen Personen nicht eigne, auch nicht, wenn sie wie im Falle von Sebastian Kurz eine Persönlichkeit sind.

Berufspolitiker

Dass der deutsche Parteienstaat die Berufung Politik systematisch zum Beruf Politik heruntergewirtschaftet hat, heißt nicht, dass einzelne Berufspolitiker nicht professionell und charakterlich respektabel und anständig sein können. Das ist allerdings nicht nur nicht der Regelfall, sondern kann es aufgrund des Rekrutierungssystems des Parteienstaates nicht sein – außer, das System versagt einmal.

Das österreichische Parteiensystem war in den Jahrzehnten des klassischen rot-schwarzen Proporzes bis an die Jahrhundertwende viel verfilzter als das bundesdeutsche Marke Bonn. Heute greifen die Parteien in Österreich nicht annähernd so weit aus und tief ein in ihre Gesellschaft wie der deutsche Parteienstaat in die bundesdeutsche Marke Berlin.

Auf den Qualitätssprung gehe ich heute weiter nicht ein, mit dem Kurz die ÖVP zur Neuen Volkspartei katapultierte: ein Prozess, der weder abgeschlossen ist noch irreversibel. Dieses interessante Thema spare ich mir auf. Nur so viel vorab: Bei Kurz hat das alte Rekrutierungssystem der ÖVP über ihre Bünde (Arbeitnehmerinnen- und Arbeitnehmerbund, Bauernbund, Seniorenbund, Wirtschaftsbund, Junge ÖVP und ÖVP Frauen) versagt. Kurz kommt zwar aus dem Jugendverband, verdankt aber diesem seine Karriere nicht.

Österreich in diesen Tagen und Wochen

Erste Beobachtung: Sebastian Kurz spinnt ein Netz von strategischer Inszenierung. In Sondierungsgespächen mit SPÖ, FPÖ und Neos hat er diese sich selbst aus der Aufnahme von Koalitionsverhandlungen ausschließen lassen – nicht endgültig, aber zunächst. Das reichte für Kurz‘ Schritt zwei: ausgedehnt lange Sondierungen mit den Grünen. Der Begründung der weiten ideologischen (meine Formulierung) Entfernung und des auch sonst gegenseitigen Nichtkennens widersprach niemand, nicht einmal der ORF. Letzterer ist dieses mal von geradezu selbstkasteiender Geduld, möchte er doch seine eigene, unübersehbare Präferenz nicht gefährden.

Kurz selbst erläutert diese Inszenierung Teil 1 seinen Anhängern so:

Die FPÖ hat von sich aus erklärt, dass sie sich in der Opposition sieht. Dieser Schritt war bedauerlich, ist jedoch in einer Demokratie zu akzeptieren. SPÖ, Grüne und Neos hingegen haben signalisiert, dass sie für Regierungsverhandlungen bereitstehen. Die Sondierungen mit den Grünen waren länger, weil die Positionen teilweise sehr unterschiedlich sind und die Grünen auf Bundesebene noch nicht in der Regierung waren.

Zum Beginn der Inszenierung Teil 2, Koalitionsverhandlungen mit den Grünen, sagt Kurz:

Sowohl die Grünen als auch wir als neue Volkspartei haben klare Positionen, für die wir gewählt wurden. Wir werden nun einen strukturierten Prozess aufsetzen und rasch, aber mit der notwendigen Sorgfalt, Verhandlungen führen.

Ich will es nicht überbewerten, aber auch nicht unter den Tisch fallen lassen: Das Wörtchen „rasch“ taucht hier erstmals auf, bisher hatte Kurz immer einfließen lassen, es werde länger dauern und für ein „Weihnachtsgeschenk“ Koalitionsbildung könne er nicht garantieren. – Aber vielleicht hält der Stratege sich mit dem „rasch“ auch nur taktisch geschickt lästige Nachfragen vom Leibe.

Zweite Beobachtung: Während die Koalitionsverhandlungen noch gar nicht laufen, stimmen im Nationalrat die Grünen nicht mit der SPÖ, sondern mit der Volkspartei. Der Standard titelt: ÖVP und Grüne üben die Allianz im Parlament; das ist wohl weit überinterpretiert, aber atmosphärisch nicht falsch. Die Kronenzeitung berichtet:

„Die Grünen haben die SPÖ nicht in ihrem Versuch unterstützt, eine jährliche Klimaschutzmilliarde zu erreichen. Zusammen mit ÖVP und FPÖ beschloss die nunmehr in Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP stehende Ökopartei am Dienstag im Budgetausschuss die Vertagung dieses Antrages.“

Und dann stimmen Grüne und Neos mit der Volkspartei ebenfalls gegen die SPÖ:

„In der Sitzung des Budgetausschusses des Nationalrats am Montag hat sich eine Mehrheit für die von der ÖVP gewünschten fünf Vignetten-Ausnahmestrecken ergeben. Grüne und NEOS stimmen dem türkisen Antrag auf Mautbefreiung auf den fünf Strecken zu. In Salzburg soll die A1 vom Walserberg bis Salzburg-Nord mautfrei werden.“

Diese vernünftige Entscheidung wird viel Verkehr von Bundesstraßen auf die Autobahn bringen, was an den Grenzen einmal viele Deutsche freuen wird (weswegen die SPÖ dagegen ist) und zum zweiten viele Pendler auf ihrem täglichen Weg nach und von Wien. Die Vernunftentscheidung passt zur Formel von Kurz: Klimaschutz ja, aber mit Hausverstand.

Nun Koalitionsverhandlungen

Die Koalitionsverhandlungen selbst inszeniert Kurz in sechs Hauptgruppen, zum Teil untergliedert in Fachgruppen. Jede Hauptgruppe wird von einem türkisen und einem grünen Politiker angeführt. Alles in allem verhandeln je 50, zusammen also 100 Personen.

Was durch die Teilnahme von so vielen Grünen am Verhandlungsprozess zustande kommt, hat mehr Chancen, von der grünen Mitgliedschaft akzeptiert zu werden als inhaltlich Identisches, das die Vormänner Sebastian Kurz aus Wien und Werner Kogler aus der Steiermark nur zu zweit ausgeschnapst (steirisch für ausgehandelt) hätten.

Eine Koalition mit den Grünen könnte sich wie die mit den Blauen erneut als instabil erweisen, schreibt die Kronenzeitung, wenn auch aus ganz anderen Gründen: „So ist zum Beispiel anzunehmen, dass sich die aufmüpfige grüne Basis kaum einer türkisen Message Control beugen wird.“ Dass Kurz diese Dimension sieht, ist nicht nur klar, sondern Teil der strategischen Inszenierung Teil 3. So wie sich SPÖ, FPÖ und Neos in Inszenierung Teil 1 fürs erste selbst aus dem Rennen nahmen, würden es die Grünen in Inszenierung Teil 3 tun, scheiterten die einvernehmlichen Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen an der grünen Basis – was zugleich ein Scheitern von Kogler und seinen Mitverhandlern bedeuten würde.

Nichts anderes gälte für Kurz‘ strategische Inszenierung Teil 4: Die grüne Basis macht zwar mit, wirft aber der dann türkis-grünen Regierung Kurz so oft Knüppel zwischen die Beine, dass diese scheitert. Dann wäre für Kurz im Urteil der Öffentlichkeit noch eindeutiger als beim Ende der Koalition mit der FPÖ der Weg offen für Verhandlungen mit allen anderen, Regieren als Minderheitenkabinett oder Neuwahlen.

Wie zu Beginn gesagt: In sechzig Jahren habe ich so etwas noch nicht erlebt, eine inszenierte Strategie vom Feinsten, strategisch inszeniert, taktisch organisiert durchgeführt. Da lohnt sich, weiter gut zuzuschauen und zuzuhören.

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