Schweden, so muss man nun wohl offiziell feststellen, ist gänzlich außer Kontrolle geraten. Aus der vergangenen Nacht wird von zwei erschossenen Personen in Stockholm und dem nahegelegenen Haninge berichtet, daneben gab es eine Schießerei in Helsingborg, und eine 25-Jährige wurde bei einem Bombenanschag auf ein Mietshaus in Uppsala umgebracht. Laut Polizei hatte die junge Frau keine Beziehung zur Gang-Kriminalität. Das macht insgesamt drei Tote in neun Stunden. Damit gilt der blutigste Tag der Entwicklung als erreicht. Im ganzen September starben zwölf Menschen durch die nicht endende Gewaltwelle der Gangs, die sich inzwischen praktisch auf das gesamte Land ausgebreitet hat. Durchschnittlich kommt es jeden Tag zu einer Schießerei irgendwo im Lande. 30.000 Menschen sind laut Schätzungen der Regierung in kriminellen Banden organisiert.
Für Ministerpräsident Ulf Kristersson ist damit ein Wendepunkt erreicht. „Das ist eine schwierige Zeit für Schweden“, sagte er in einer eigens anberaumten Fernsehansprache. „Eine 25-Jährige ging gestern an einem vollkommen normalen Abend ins Bett, aber wachte nicht mehr auf.“ Kristersson beklagt, dass immer mehr Kinder und völlig unschuldige Menschen von der Gewalt betroffen seien. Er leitet daraus vor allem den Auftrag ab, die Gangs zu besiegen. „Ich kann nicht genug betonen, wie ernst die Lage ist. So etwas hat Schweden noch nie gesehen. Kein anderes Land in Europa sieht so etwas.“ Laut Kristersson war „Naivität“ daran schuld, dass die organisierte Kriminalität in Schweden im vergangenen Jahrzehnt so stark zunehmen konnte. Im nächsten Satz wurde Kristersson konkreter: „Eine unverantwortliche Einwanderungspolitik und gescheiterte Integration haben uns an diesen Punkt geführt: Ausgrenzung nährt die Banden.“ Die schwedische Gesetzgebung sei nicht eingestellt auf „Bandenkriege und Kindersoldaten“, aber das werde man nun ändern. Es stünden harte und schwierige Entscheidungen an. Kristersson sprach dabei wiederum vom „Paradigmenwechsel“, den seine liberal-konservative Regierung umsetzen wolle.
Umfrage unter Parteichefs: Sozialdemokraten tragen Militäreinsatz mit
Am Freitag will Kristersson den nationalen Polizeichef Anders Thornberg zusammen mit dem Oberbefehlshaber Micael Bydén treffen, um zu untersuchen, wie die Streitkräfte gegen die grassierende Bandenkriminalität einzusetzen sind. Erst vor einer Woche hat sich Kristersson mit dem Bürgermeister von New York getroffen, um die Wirksamkeit weiterer Maßnahmen zu erwägen: Videoüberwachung, Gesichtserkennung, Waffendetektoren. Diese Mittel will Kristersson nun auch in Schweden einsetzen, will die Strafverfolgung verschärfen und „die Sicherheit für die schwedischen Bürger hier und jetzt erhöhen“. An dieser Stelle muss man auch kurz innehalten und fragen, ob die Einberufung des Oberbefehlshabers nur dazu dienen könnte, der schwedischen Gesellschaft einen Grund zu liefern für radikale Gesetzesverschärfungen, die letztlich alle Schweden betreffen. Gegen den „chinesischen“ Charakter der genannten Mittel regt sich jedenfalls schon vereinzelt Widerstand.
Immer wieder betont der Regierungschef, in welcher außergewöhnlichen Situation man sich befinde: „Alle Ressourcen der Regierung, die einen wirksamen Beitrag leisten können, müssen für diese Arbeit genutzt werden. Alles liegt auf dem Tisch, wir schließen nichts aus.“ Am Sonntag tritt ein Gesetz in Kraft, das es der Polizei ermöglicht, Banden präventiv zu belauschen, um so Straftaten zu verhindern. Auch die Prävention will Kristersson verbessern und verweist auf einen der Mörder von diesem Tag, der erst 15 Jahre alt war.
Die Tageszeitung Aftonbladet hat eine Umfrage unter allen Parteichefs veröffentlicht. Die Sozialdemokratin und Amtsvorgängerin Kristerssons, Magdalena Andersson, betont, dass auch ihre Regierung bereits „rund 80 Strafen verschärft und die Polizeiakademien ausgebaut“ habe. Trotzdem gibt sie zu, nicht genug Ressourcen investiert zu haben, um den „Rekrutierungsprozess“ zu unterbrechen – gemeint ist offenbar die Anwerbung weiterer Gangmitglieder durch die kriminellen Anführer. Andersson stimmt dem Einsatz des Militärs zu, das – ähnlich wie in der Pandemie – eigenes „technisches Know-how“ bereitstellen könne. Auch die Herbeiziehung norwegischer, dänischer oder finnischer Polizisten befürwortet Andersson, ohne die Rechtsgrundlage des Verfahrens zu erläutern.
Schwedendemokraten: Kritiker wurden jahrelang zum Schweigen gebracht
Jimmie Åkesson, Vorsitzender der Schwedendemokraten, die die Regierung aufgrund des Tidö-Abkommens tolerieren und mit 72 Sitzen die zweitgrößte Fraktion im Reichstag bilden, sprach von der „schweren Kriminalität“ als einem „importierten Problem“ und einer „direkten Folge vor allem der Politik der Sozialdemokraten seit Olof Palme“. Auch die konservativen Moderaten unter dem ehemaligen Regierungschef Fredrik Reinfeldt (2006–2014) trügen eine Mitschuld. „Praktisch ungeregelte Einwanderung aus fernen Kulturen, nicht vorhandene Anforderungen an die Menschen, die aus diesen Kulturen eingewandert sind, und eine Gesellschaft, die stark unterdimensioniert ist, um so viele Menschen aufzunehmen, wie es Schweden in so kurzer Zeit getan hat“, habe zu den nun für alle offenkundigen Folgen geführt.
Dagegen seien alle, die vor dieser Politik warnten, „mit hässlichen Etiketten, Medienrummel und sogar dem Risiko, ihren Arbeitsplatz zu verlieren, effektiv zum Schweigen gebracht“ worden. Die Maßnahmen der Regierung trägt Åkesson mit. Er hebt aber hervor, dass die Schwedendemokraten diese Lösungen – vor allem eine restriktivere Einwanderungspolitik – schon seit langem befürworten.
Linkspartei: Drogenmarkt ist Lebenselixier der Banden
Nooshi Dadgostar, die Vorsitzende der Linkspartei (24 Sitze), beklagt die Normalisierung des Drogenkonsums: „Drogen und Waffen wurden an der Grenze nicht ausreichend gestoppt. Zu wenige Gewaltverbrechen und schwere Drogendelikte wurden aufgeklärt. Zu wenige der Bandenführer sitzen hinter Gittern.“ Die Regierung müsse außerdem Druck auf die Türkei ausüben, die Bandenführer beherberge, die in Schweden „Kinder fernsteuern“. Der Drogenmarkt sei „das Lebenselixier der Banden“. Schweden gilt als Tor des Kokainhandels nach Europa.
Muharrem Demirok, Vorsitzender der einst bäuerlichen Zentrumspartei (Centerpartiet, 24 Sitze) mit grünem Anstrich, setzt eher auf weiche polizeiliche und soziale Mittel. „Es sind die schlechte Integration und die Arbeitslosigkeit, die zu der Segregation geführt haben, die wir heute sehen.“ Man habe „zu wenig in eine gute Schule und Arbeitsplätze investiert“. Auf diesem Boden seien die Banden gediehen. Nun meint Demirok, dass ein nationales Aussteigerprogramm für Kinder und Erwachsene Abhilfe schaffen könne. Aber auch für härtere Strafen zeigt er sich offen.
Die Sprecherin der Grünen (18 Sitze), Märta Stenevi, spricht von einem regelrechten „Mafiakrieg“, will aber auch bei polizeilichen Mitteln bleiben. Die Polizei verfüge allerdings nicht über ausreichende Instrumente. Das Justizsystem müsse wachsen. Der Vorsitzende der mitregierenden Liberalen Partei (16 Sitze), Johan Pehrson, hebt hervor, dass die Regierung aktuell Pläne zur Einführung von speziellen Jugendgefängnissen vorgelegt hat, um „Kindern und Jugendlichen aus der Kriminalität zu helfen und die Gesellschaft vor gefährlichen Kriminellen zu schützen“.
Kristersson: Ausländer abschieben, die in Banden verstrickt sind
Ebba Busch, Chefin der ebenfalls mitregierenden Christdemokraten (19 Sitze), sieht das Problem hinter der Bandenkriminalität zuletzt als „eine Frage der Ethik“. Es müsse „ein gemeinsames Verständnis dafür geben, was richtig und was falsch ist. Eine ethische Muttersprache.“ Erst dann könne man über Misserfolge in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft sprechen, darunter „eine seit acht Jahren totale Naivität in Bezug auf Migration und Integration“. Man stehe vor „einem erodierten Rechtsverständnis“.
Busch betont, dass „weite Teile unseres Landes“ von der Welle der Gewalt erfasst seien, auch Orte, von denen man so etwas bis vor kurzem noch nicht erwartet hätte. „Wer hätte gedacht, dass es in Sandviken tödliche Schießereien geben würde?“ Vor einer Woche wurden in einem Pub in der Kleinstadt zwei Männer umgebracht. Der Staat, der das Gewaltmonopol habe, müsse mehr Präsenz zeigen, um „ein klares Signal an die Kriminellen zu senden: Es sind nicht eure Straßen, Nachbarschaften oder Nachbarschaften.“ Die Eltern krimineller Kinder bräuchten Unterstützung. Erwachsene Straftäter müssten aber abgeschoben werden.
Eben dies hat auch Regierungschef Ulf Kristersson angekündigt: „Wir werden Ausländer abschieben, die in kriminelle Banden verstrickt sind, auch wenn sie für kein Verbrechen verurteilt worden sind. Das ähnelt aufs Haar einem Vorschlag von Innenministerin Nancy Faeser, für den sie viel Kritik bekam – unter anderem weil die Rechtssicherheit des Vorschlags fraglich scheint. Deutsche Clangrößen würden zweifellos gegen eine solche Abschiebung klagen, vielleicht mit Erfolg. Ob das in Schweden besser klappt, bleibt abzuwarten.