Nach der Freilassung der „Kapitänin” der Sea-Watch, Carola Rackete befand sich die migrantophile Öffentlichkeit im Überschwang. Ein moralischer Sieg auf ganzer Linie: die scheinbar wehrlose, junge Frau gewann das Armdrücken gegen den Tyrannen Salvini. In diesen Zeiten, da Personalien und Emotionen mehr zählen als Sachverhalte und Fakten, sind es Bilder wie diese, die Politik- und Geschichtsverständnis dominieren. Kein Zufall, dass die Schnittmengen zwischen den Anhängern des Greta-Kultes und der Rackete-Verehrung auffällig sind. Große Teile jener Bevölkerungsschicht, die sich selbst als humanistisch-aufgeklärt verorten würden, sind im Grunde Opfer eines Populismus, den sie nicht durchschauen.
Das Gute kann nicht irren
In der manichäisch aufgeladenen Weltsicht spielt Matteo Salvini die Rolle des Satans. Ein Triumph über ihn ist ein Triumph über das Schlechte im Menschen an sich. Die Aussage des Grünen-Politikers Cem Özdemir macht das deutlich: Männer wie Salvini versuchten die „Menschlichkeit in uns zu zerstören“. Damit ist der italienische Innenminister jeglicher menschlichen Kategorie enthoben. Zu Teufel und Dämonen, die Schindluder mit der christlichen Seele treiben, ist es da nicht mehr weit. Allerdings verhindert eine solche ideologisch aufgeladene Sichtweise den Blick auf das, was wirklich passiert ist.
Keine Frage: Salvini war am Dienstagabend zerknirscht. Das Facebookvideo, das der Lega-Chef live übermittelte, zeigt einen Mann, welcher der Resignation nahe ist. Nicht den Wüterich, den die deutschen Medien so gerne transportieren, sondern den enttäuschten Politiker, der für seine Ideale kämpft; und den Familienvater, der an die Zukunft seiner Kinder in diesem Land denkt. Ob Wahrheit oder Inszenierung: Salvini trifft auch in dieser Niederlage den Ton, weil er damit den Nerv der Enttäuschten trifft. Tiraden gibt es keine. Stattdessen spricht er jenem Wählerpotential aus der Seele, das die Lega für sich zu gewinnen sucht – und damit Erfolg haben dürfte.
Laut einer Umfrage der Tageszeitung Corriere della Sera haben zwei Drittel der Italiener die Causa Sea-Watch mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt. 59 Prozent der Befragten äußerten, dass sie sich „sehr“ für die Regierungslinie hinsichtlich der geschlossenen Häfen aussprächen, weitere 25 Prozent sprächen sich „eher“ für die Regierungslinie als für offene Häfen aus. Nur 29 Prozent der Italiener bezeichneten Salvinis Migrationspolitik als fehlerhaft. In einer vergangenen Umfrage hatten noch 40 Prozent der Italiener das Vorgehen Racketes gutgeheißen. Jetzt sind es nur noch 23 Prozent.
Offenbar hat sich der Wind endgültig gedreht
Die Umfrage zeigt, dass Racketes Triumph in Wirklichkeit ein Pyrrhussieg ist. Nicht zuletzt die Freilassung am Dienstagabend dürfte das Gemüt der Italiener angeheizt haben. Ein verdienter Mafiajäger wie der Staatsanwalt Luigi Patronaggio, der nach dem riskanten Anlegemanöver Racketes keinen Zweifel daran gelassen hatte, dass keine Notsituation an Bord des Schiffes bestand, und die Abdrängung eines Zollschiffes der Finanzpolizei (Guardia di Finanza) als Gewaltanwendung gegen ein Kriegsschiff bewertet hatte, sieht sich heute desavouiert. Der Entschluss Alessandra Vellas, dem Boot seinen Kombattantenstatus abzusprechen, hat nicht nur bei einfachen Bürgern, sondern auch bei der Guardia di Finanza und anderen öffentlichen Stellen für Irritationen gesorgt. Zitat eines Finanzpolizisten: „Wer das Gesetz bricht, wird als Heldin gefeiert, und wer sein Vaterland verteidigt, wird als Verbrecher behandelt.“
Nicht Salvini, sondern Alessandra Vella dürfte derzeit die meistgehasste Person Italiens sein. Die Richterin sah sich nach Beschimpfungen dazu gezwungen, ihren Account bei Facebook zu löschen. Eine Frau aus Benevento erstellte Anzeige wegen fehlerhafter Annahmen bei der Entscheidung der Untersuchungsrichterin. Zuletzt soll es sogar Morddrohungen gegeben haben. Das will was heißen in einer Zeit der Polarisierung, da Aufrufe wie „Scheiß Salvini“ oder „Tötet Salvini!“ an Hauswänden stehen. Dass eine deutsche NGO ungesühnt ein italienisches Militärschiff rammen kann, bedeutet ein tiefes Gefühl der Demütigung einer Nation, deren Geschichte zu großen Teilen aus Fremdherrschaft besteht und auf dem Mythos der Befreiung fußt.
Dass sich in einer neuerlichen Affäre um ein deutsches NGO-Schiff (die Alan Kurdi von Sea-Eye) der Innenminister Horst Seehofer einschaltet, weil Italien seine Politik überdenken müsse, ist da nur Wasser auf den Mühlen. Der Streit um die italienische Migrationspolitik ist längst zum Streit über das geworden, was ein Nationalstaat darf – im Spiel mit der EU, im Spiel mit internationaler Politik. Salvinis Kampf um geschlossene Häfen wird zum Krieg gegen ausländische Fremdbestimmung.
Es war nicht die Lega, die diesen Streit vom Zaun gebrochen hat. Aber es ist Salvini, der als „protector Italiae“ nun davon profitiert, dass er Berlin, Paris und Brüssel die Stirn bietet. Haushaltsdefizite sind nur ein kleines Detail, wenn der italienische Grenzschutz nicht mehr die italienische Grenze bewachen darf, sondern nur, wenn es andere erlauben.
Bei der EU-Wahl kam die Lega noch auf rund 34 Prozent. Seit diesem Wochenende steht sie bei 38 Prozent. Tendenz steigend. Die magische 40-Marke zum Greifen nah. Das rechte Lager hätte bei Neuwahlen die absolute Mehrheit. Carola Rackete könnte damit nicht zum Zenit für die Fraktion der „Refugees welcome!“ werden – sondern zu deren Endpunkt. Zumindest in Italien.
Marco F. Gallina schreibt vorwiegend auf seinem Löwenblog.