Dass eine italienische Senatsdebatte im Ausland Wogen schlägt, geschieht selten. Anders bei der Sitzung vom 20. August. Premierminister Giuseppe Conte erklärte seinen Rücktritt – und stellte der Erklärung eine Generalabrechnung mit Innenminister Matteo Salvini voran. Conte, der monatelang mit dem enfant terrible europäischer Politik zusammengearbeitet hatte, nannte diesen nun „autoritär“ sowie „unverantwortlich“ und warf ihm „Opportunismus“ vor. Der Innenminister habe gezeigt, dass er aufgrund persönlicher und parteilicher Interessen das ganze Land in eine Krise geworfen habe.
Der plötzliche Anti-Salvinismus kam der salviniskeptischen Öffentlichkeit innerhalb und außerhalb Italiens entgegen – nicht zuletzt, weil Conte auch die EU-Politik seines Ex-Kollegen geißelte. Da mag man schnell vergessen, wie sehr Conte früher die Erfolge in der Sicherheitspolitik lobte, die mehrheitlich das Werk des lombardischen Beelzebub waren. Die Strategie: die eigene Regierungsarbeit herausstellen, aber auf Salvini mit dem Prügel einschlagen.
Den Wunsch nach Neuwahlen bügelte der parteilose Ministerpräsident mit Hinweis auf staatliche Stabilität ab: „Die Bürger abstimmen zu lassen, das ist die Essenz der Demokratie. Sie jedes Jahr wählen zu lassen, das ist dagegen unverantwortlich.“ Salvinis Verhalten in den letzten Tagen zeige wenig Gefühl für die politischen Institutionen des Landes und mangelnden Respekt vor den Abläufen der Verfassung. Conte sprach seinen Innenminister persönlich an: „Lieber Matteo, ich habe deinen Ruf nach ‚voller Macht‘ gehört und nach Unterstützung durch die Menschen auf den Plätzen, diese deine Auffassung besorgt mich.“
Der Premier warf Salvini weiter vor, seine Russlandverstrickungen nicht im Parlament besprochen zu haben. Zudem habe es der Innenminister mit Rücksicht auf das Gebot des staatlichen Laizismus zu vermeiden, religiöse Symbole im politischen Kontext einzusetzen – Conte spielte damit auf eine Kundgebung Salvinis kurz vor der EU-Wahl an, bei der er einen Rosenkranz zeigte und die Madonna anrief. Der Innenminister, der bis dato nur kopfschüttelnd, espressotrinkend oder notizenschreibend die Rede entgegennahm, holte in einem Akt leisen Protests seinen Rosenkranz hervor und küsste eben jenen.
Kurz: die italienische Senatssitzung pendelte irgendwo zwischen einer shakespear’schen Verdi-Oper und einer Wiederauflage der Catilinarischen Verschwörung – samt Republikrettung durch den Konsul Conte. Im Gegensatz zu Contes Rede wurde Salvinis Entgegnung nur bedingt rezipiert. Der machte gleich zu Beginn deutlich: „Ich werde alles wieder tun, was ich getan habe. Punkt.“ Mit großer Kraft, weil er ein freier Mann sei. Er habe keine Angst vor dem Urteil der Italiener über seine Politik. Im Saal befänden sich freie Frauen und Männer – und weniger freie. „Wer Angst vor dem Wahlgang der Italiener hat, kann nicht von sich behaupten, frei zu sein.“
Der Innenminister räumte mit dem Vorurteil auf, ihn interessiere nur das Italien der Umfragen und Sozialen Medien: „Uns liegt das Italien des Jahres 2050 am Herzen.“ Für ihn zähle nicht das Italien der Sesselkleber, nicht das „virtuelle“ Italien, sondern das Italien jener, die arbeiteten, die im Büro säßen, die ihr Unternehmen führten oder im Krankenhaus arbeiteten. „Der surrealste Vorwurf war: man bricht keine Krise im August vom Zaun, weil der August den Parlamentariern heilig ist. Die Parlamentarier müssen auch Mitte August arbeiten wie alle anderen Italiener auch!“
Salvini verteidigte seine Amtszeit: Italien sei sicherer geworden. Und: „Das Italien, das wir uns vorstellen und im Kopf und im Herzen haben, ist ein Italien, das eine Vision verdient, Mut, Aufrichtigkeit, Opfer, eine echte Justiz, wo es 60 Millionen mutmaßlich Unschuldige gibt und nicht etwa 60 Millionen mutmaßlich Verdächtige. Das ist der Unterschied zwischen einem Rechtsstaat und der Rückkehr in den Dschungel.“
„Sind oder sind wir nicht ein freies, ein souveränes Land? Frei dazu, seine Grenzen zu verteidigen?“ Salvini drehte nun den Spieß um, warf dem ehemaligen Verbündeten selbst parteipolitische Ränkespiele vor. „Mir ist es jedenfalls nicht passiert, mit Kanzlerin Merkel über Ratschläge zu sprechen, wie man den Wahlkampf gewinnen kann – weil Salvini die Häfen geschlossen hat.“ Und weiter: „Ich habe die Häfen geschlossen, und ich werde sie wieder schließen, so mir die Italiener und der gute Gott neuerlich die Kraft dazu geben, in die Regierung zurückzukehren! Wenn irgendjemand Nostalgie nach der Massenmigration und nach den Geschäftspraktiken der illegalen Einwanderung verspürt, wird er mit mir keinen Kompromiss finden.“
Neuerlich rückte Salvini den Fokus auf das Szenario „Italien 2050“. Dabei zeichnete der Innenminister ein düsteres Bild: ein Land, das vier Millionen leistungswillige und gebildete Facharbeiter verloren hat, weil diese im Ausland nach besseren Perspektiven sucht; stattdessen die Einwanderung von zehn Millionen (meist unausgebildeter) Migranten begrüßt; der größte Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung in Rente oder kurz vor dem Renteneintrittsalter. „Ich finde mich nicht mit einem immer ärmer und immer älter werden Land ab!“ Um dieser Zukunft entgegenzuwirken, bedürfte es mutiger wirtschaftlicher Reformen. Er rief dazu auf, die Paläste zu verlassen und die Italiener dort aufzusuchen, wo sie arbeiteten und lebten, weil niemand ihnen zuhöre.
Auf den Vorwurf, die Vorgaben des Laizismus nicht eingehalten zu haben, antwortete Salvini nicht weniger emotional. „Ich habe nie für mich selbst den Schutz Mariens in Anspruch genommen, sondern für das italienische Volk, für das ich den Schutz durch das unbefleckte Herz Mariens anrufe, solange ich lebe! Weil dies das Land ist, das alles verdient! Und ich schäme mich dafür nicht!“
Salvini leitete sein Abschlusswort mit einem Zitat des Heiligen Johannes Paul II. ein: „Vertrauen erlangt man nicht durch Erklärungen oder mit Gewalt; vertrauen muss man sich verdienen durch Gesten und Taten.“ Der Lega-Chef, der am selben Tag das Misstrauensvotum gegen Conte zurückzog, streckte ein letztes Mal die Hand Richtung M5S aus und warnte vor der Wiederkehr der Kaste, von der sich Italien gerade befreit habe. „Wenn der Reformprozess beendet werden soll, den wir angefangen haben, dann sind wir dabei. Wir halbieren das Parlament, und danach gehen wir wählen. Wenn ihr stattdessen mit Renzi zusammenarbeiten wollt, dann Glückwunsch – und erklärt es den Italienern! Es lebe Italien, es lebe die Freiheit und es lebe die Demokratie in diesem Land!“
Marco F. Gallina schreibt vorwiegend auf seinem Löwenblog.