Putins Truppenaufmarsch: Was passiert in der Ukraine?
Sebastian Thormann
Die Berichte zu ungewöhnlichen russischen Truppenbewegungen an der ukrainischen Grenze mehren sich. Über die Motivation kann man nur spekulieren. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj wünscht sich einen schnellen Beitritt seines Landes zur Nato.
Über die letzten Tage zieht Russland Presseberichten zufolge im großen Stil immer mehr Militärgerät und Truppen an der Grenze zur Ukraine zusammen. Begonnen hat dies wohl Ende März. In Videos aus den Sozialen Medien sind Kampfpanzer, mobile Stationen für Boden-Luft-Raketen und anderes Militärgerät zu sehen. Mehrere tausend russische Soldaten sammeln sich an der Grenze. Auch auf der von Russland annektierten ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim wurden Videos aufgenommen, die reihenweise Panzerhaubitzen auf Zügen zeigen. Dazu kommt vermehrt anti-ukrainische Propaganda im russischen Fernsehen: Das alles nährt die Sorge vor einer neuen russischen Aggression. Das US European Command (EUCOM) in Stuttgart erhöhte in Anbetracht der Lage seine Warnstufe für die Ukraine auf „mögliche bevorstehende Krise“ – die höchste Stufe.
Seit dem Russland 2014 die Krim annektiert hat, hat sich die Lage in der Region nie völlig entspannt. Pro-russische Milizen und irreguläre russische Truppen besetzen nach wie vor Gebiete im Donbass-Gebiet in der Ostukraine an der russischen Grenze. Darunter sind vor allem die Städte Luhansk und Donezk, die separatistische „Volksrepubliken“ ausriefen. Seit Jahren gilt ein fragiler Waffenstillstand zwischen ukrainischen Truppen und russisch-unterstützen Separatisten. Seit Ende März kommt es dabei wieder zu Schusswechseln.
Was haben also die neusten russischen Truppenbewegungen zu bedeuten?
Es gibt zwei mögliche Szenarien: Entweder Putin lässt nur die Säbel rasseln und will dem Westen und der Ukraine seine Stärke demonstrieren – oder er plant tatsächlich mit regulären Truppen im größeren Stil eine Offensive in der Ukraine. Im Falle eines Angriffs wären verschiedene Größenordnungen denkbar, von einem regional begrenzten Vordringen auf ukrainisches Gebiet bis hin zu einem Vormarsch bis in die Westukraine. Das vorderste strategische Ziel Russlands wären Gebietsgewinne am Schwarzen Meer etwa bei Mariupol, um eine Landverbindung zur bereits besetzen Krim herzustellen.
Es gibt auch einige innenpolitische Gründe, die eine Offensive logisch erscheinen lassen: In Russland stehen die Parlamentswahlen vor der Tür und Putin könnte einen Konflikt zur Ablenkung gerade von Kontroversen rund um den inhaftierten oppositionellen Aktivisten Navalny gut gebrauchen.
Möglich ist auch, dass der russische Machthaber sich alle Optionen offenhält und abtastet, wie weit er es mit dem neuen US-Präsidenten treiben kann. Sein Parteifreund Obama ließ schließlich die Invasion der Ukraine geschehen, ebenso wie die russische Intervention in Syrien. Damals zog Präsident Obama eine „rote Linie“. Als diese dann übertreten wurde, blieb eine amerikanische Reaktion aus. Unter Trump dagegen griffen die USA mehrmals syrische Stellungen an, nachdem es zu Giftgaseinsätzen kam und setzten damit die „rote Linie“ der Vorgängerregierung durch. Gut möglich, dass also Putin jetzt nach dem Amtswechsel in den USA eine neue Chance für militärische Abenteuer in der Ukraine wittert, auch weil Bidens Team noch nicht vollständig in allen Regierungs-Positionen aufgestellt ist.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion gab die unabhängige Ukraine die sowjetischen Atomwaffen unter ihrer Kontrolle – damals das drittgrößte Arsenal der Welt – auf und erhielt im Gegenzug im Budapester Memorandum Sicherheitszusagen von Russland, u.a. die bestehenden Grenzen zu respektieren – daran hat sich Russland offensichtlich nicht gehalten und manch ein ukrainischer Politiker dürfte die Entscheidung von damals bereuen. Das letzte Faustpfand der Ukraine sind jetzt die Pipelines durchs Land, durch die Russland sein Gas nach Europa transportiert. Doch Deutschland und Westeuropa werden mit dem Bau der Nord Stream 2 Pipeline künftig direkt aus Russland beliefert – der Ukrainische Gastransit fällt weg.
Dem russischen Militär ist das ukrainische weiterhin weit unterlegen. Ohne Unterstützung von außen wäre das Land chancenlos gegen einen russischen Angriff. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich einen schnelleren Beitritt seines Landes zur Nato. Das westliche Militärbündnis sei der einzige Weg zum Ende des Krieges, twitterte er heute.
Würde es Russland wagen, in weitere Teile der Ukraine einzumarschieren, während der Westen zuschaut, wäre das auch ein Signal an den Rest der Welt: Niemand ist sicher. Insbesondere die drei baltischen Staaten, Estland, Lettland und Litauen, allesamt NATO-Staaten und wie die Ukraine ehemals Teil der Sowjetunion, dürften sich dann zurecht fragen: Sind wir die nächsten? Es ist also auch ein Test für die NATO – und vor allem für US-Präsident Biden.
Der reagierte nun und telefonierte kürzlich erstmals mit dem ukrainischen Präsident Selenskyj. Biden bekräftigte dabei öffentlich „die unerschütterliche Unterstützung der Vereinigten Staaten für die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine angesichts der anhaltenden Aggression Russlands auf dem Donbass und der Krim.“ Ein Signal an Putin also. Für Biden ist dieser Konflikt der Grundbaustein für seinen weltpolitischen Ruf. Knickt er hier ein, dürften ihm in Zukunft Autokraten weltweit auf der Nase herum tanzen. Auch für Putin geht es um viel. Verliert er das Image des starken Mannes, wäre das womöglich das Ende seiner Herrschaft.
Über die Reaktion eines Landes aber dürfte Putin sich nur amüsieren: Deutschland. Aus Heiko Maas‘ Auswärtigen Amtes heißt es lediglich man sei „besorgt“ über die Situation in der Ostukraine und Deutschland rufe – man könnte meinen in einem Anflug von Humor – „die Parteien“ (also Russland und die Ukraine) zur „Zurückhaltung und sofortigen Deeskalation“ auf.
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