Die schon durch die Corona-Debatte getrübte Adventsstimmung könnte schon bald einen noch viel größeren Dämpfer erhalten. Verfolgt man die Meldungen über die sich zuspitzende Situation an der Grenze zwischen der Ukraine und Russland, so rückt eine Eskalation bis hin zu einem begrenzten Krieg in greifbare Nähe. Die westlichen Dienste beobachten eine beunruhigende Konzentration russischer Truppen direkt vor den Toren der von Separatisten beherrschten Ost-Ukraine. Die Regierung in Kiew selbst ist sogar überzeugt, dass eine Offensive von Putins Divisionen bereits beschlossene Sache sei und spätestens bis Ende Januar erfolgen werde. Äußerst besorgt sind auch die Regierungen der Nato-Partner Litauen, Estland, Lettland und Polen. Die USA reagieren bislang eher unaufgeregt. Noch sind keine westlichen Streitkräfte in einer Weise verstärkt oder gar US-Truppen in die Krisenregion verlegt worden. Für die nächsten Tage kommt es auf Wunsch des US-Präsidenten zu einem direkten Gespräch mit Wladimir Putin. Die Warnungen Washingtons und der EU, dass im Falle eines russischen Einmarsches in die Ost-Ukraine der Westen mit harten Konsequenzen reagieren würde, gehören immer noch in die Kategorie des üblichen Geplänkels in solchen Situationen.
Es gibt in Moskau ernsthafte Zweifel, ob militärische Akte tatsächlich das Ansehen der Führung verbessern könnten. Eine Annexion der Ukraine – die Russen würden sie wohl als Heimkehr zu Mütterchen Russland bezeichnen – brächte neben den menschlichen und finanziellen Verlusten auch neue schwere Lasten mit sich. Zu seinen eigenen Problemen müsste Russland auch noch die eines Großteils der Ukraine schultern. Mit einer ernsthaften militärischen Reaktion muss Putin nicht rechnen. Auch hat er kein Interesse an einem Weltkrieg. Ganz davon abgesehen, dass die Bevölkerungen in den USA, aber auch in Deutschland einen solchen Krieg nicht unterstützen würden. Für Demokratien ein wichtiger Faktor.
Was wohl geschehen würde, ist eine massive Verschärfung der wirtschaftlichen Sanktionen, die Russland schon jetzt viel mehr treffen, als der Kreml es eingesteht. Auch das so lange ausgehandelte und für die Russen so strategische Gas-Pipeline-Projekt „Nord Stream 2“ wäre dann wohl vollständig vom Tisch. Alles in allem scheint ein russischer Gewaltakt also eher unwahrscheinlich.
Das bedeutet freilich nicht, dass Putin seinen Traum von der Wiederherstellung der territorialen Dimension der alten Sowjetunion aufgegeben hätte. Aber die Risiken wären im Moment einfach zu hoch. Dennoch muss aus Moskaus Sicht verhindert werden, dass sich die Regierung der Ukraine mit der Bitte um Nato-Aufnahme oder eines ukrainisch-amerikanischen Beistands-Abkommens an Biden wendet. Das naheliegendste Mittel wäre ein von innen kommender Umsturz in der Ukraine. Eine Option, die auch die Nachrichtendienste im Westen, darunter auch der BND, für wahrscheinlich halten.
Moskau weiß außerdem, dass West-Europa, und hier insbesondere Deutschland, innenpolitisch eine solche Entwicklung gar nicht durchhalten würde. Hier fehlt vielerorts ja schon der Wille zur Verteidigung – geschweige denn zu einem Angriff. Die USA selbst richten ihr Augenmerk vor allem auf China. Dem ordnet auch Biden alles andere unter. Blieben nur die Nato-Partner im Osten des Kontinents. Doch auch sie könnten ohne die USA nur protestieren und warnen. Eine ernstzunehmende Bedrohung Russlands wären auch sie nicht. Die wirklich Leidtragenden sind die Menschen in der Ukraine, die ein eigenes Land wollen, denn auf absehbare Zeit werden sie kein Dasein in friedlichen Verhältnissen erleben.