„Russlands Staatsbankrott ist nur eine Frage der Zeit.“ EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen war sich völlig sicher, als sie – ganz in Gelb-Blau gekleidet, den ukrainischen Nationalfarben – gewohnt selbstgewiss vor die Presse trat. Die EU-Sanktionen gegen Moskau seien „hochwirksam“, ergänzte Bundeskanzler Olaf Scholz: „Russlands Wirtschaft wankt.“
Das war vor anderthalb Jahren. Wir kommen gleich darauf zurück.
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Wegen des Angriffs auf die Ukraine hat Deutschland im vergangenen Januar mit großer Geste beschlossen, kein russisches Öl mehr zu kaufen.
Aber Deutschland braucht Öl zum Überleben: als Energieträger für Autos und Lastwagen, als Rohstoff für zahllose Wirtschaftsgüter – und, nicht zu vergessen, als Wärmequelle. Jedes fünfte Gebäude wird mit Öl geheizt. Wir haben nach Angaben der Schornsteinfeger-Innung mehr als fünf Millionen Ölheizungen im Land.
Vor Beginn des Ukraine-Kriegs im Februar 2022 hat die Bundesrepublik in guten Jahren jeden dritten Liter des benötigten Öls aus Russland importiert. Seitdem Moskau als Lieferant nicht mehr erwünscht ist, muss das Zeug ja nun woanders herkommen.
Zum Beispiel aus Indien.
In den ersten sieben Monaten dieses Jahres hat Deutschland aus dem inzwischen bevölkerungsreichsten Staat der Erde Mineralölerzeugnisse im Wert von 451 Millionen Euro importiert – zwölfmal so viel wie im selben Zeitraum 2022, da waren es nur 37 Millionen Euro. Das ist eine unglaubliche Steigerung von 1.200 Prozent.
Und es besteht der gut begründete Verdacht, dass Indien das Öl erst günstig in Russland kauft – und die Ölprodukte dann teuer an Deutschland weiterverkauft.
Denn bei unseren Importen aus Indien handelt es sich nach Angaben des Statistischen Bundesamts Destatis „hauptsächlich um Gasöle, die für die Herstellung von Diesel oder Heizöl genutzt werden“. Diese sogenannten Gasöle produziert Indien aber bekannterweise auf der Grundlage von russischem Rohöl.
So landen große Mengen Russen-Öl weiter in Deutschland.
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Das alles hätte man wissen können. Vielleicht wusste man es auch und wollte es nur einfach nicht wahrhaben, das ist heutzutage ja üblich. Wunsch ersetzt Wirklichkeit.
Energieexperten berichten schon lange, dass russisches Öl weltweit weiter nahezu problemlos gehandelt wird. „Sobald eine direkte Handelsroute blockiert ist, balanciert der Markt das einfach indirekt aus“, sagt der Brüsseler Insider Georg Zachmann vom Thinktank Bruegel in Brüssel der Nachrichtenagentur AFP.
Nicht nur Geld kann man waschen, sondern auch Öl, weiß der österreichische Energieanalyst Johannes Benigni. Da werden dann eben Millionen Liter auf hoher See von einem russischen Frachter auf einen nicht-russischen gepumpt. Und sobald russisches Rohöl in Indien weiterverarbeitet wird, gilt das Endprodukt – zum Beispiel Gasöl – sowieso offiziell als indisch.
Lustigerweise hat die EU das selbst in der Verordnung des Rates mit der Bürokratienummer 833/2014 sogar festgelegt. Da steht: Wenn russisches Rohöl in einem Drittland substanziell verarbeitet wird, ist es nicht mehr als russisches Öl zu betrachten. Tja.
Und so landet mit gütiger indischer Unterstützung russisches Öl weiter massenhaft in Europa – vor allem als Heizöl, Benzin, Diesel oder Kerosin (Flugbenzin). Indien hat die viertmeisten Raffinerien weltweit und produziert viel mehr Ölprodukte, als es selbst braucht. Den großen Überschuss exportiert das Land vorzugsweise in die EU: allein im April 2023 Kraftstoff im Wert von rund 900 Millionen Euro – viermal so viel wie vor dem Krieg.
Für Indien ist es ein prima Geschäftsmodell. 2,2 Millionen Fässer mit russischem Rohöl landen in Indien – jeden Tag. Das jährliche Handelsvolumen zwischen Neu-Delhi und Moskau betrug vor dem Ukraine-Konflikt etwa elf Milliarden Euro, inzwischen ist es weit mehr als das Dreifache. Dabei haben sich nicht nur die Öl-Einfuhren, sondern auch die Importe von Kohle und Düngemitteln aus Russland vervielfacht.
Wegen der EU- und US-Sanktionen gewährt Russland Indien für sein Rohöl nach Schätzungen einen Rabatt von mindestens zehn Prozent auf den Weltmarktpreis. Indien kauft sein Rohöl also enorm günstig ein. Die weiterverarbeiteten Ölprodukte verkauft Neu-Delhi nach Europa aber zum ganz normalen Preis.
Die Sanktionen machen Russland also vermutlich nicht viel ärmer, aber Indien ganz sicher viel reicher.
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Die nächste grandiose Idee, die nicht funktioniert, ist der sogenannte Preisdeckel.
Auf Vorschlag aus Berlin hatten sich die G7-Staaten (Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Japan, Kanada und die USA) mit der EU und Australien im vergangenen Jahr darauf verständigt, für russisches Öl eine Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel zu bestimmen. Reedereien und Versicherungen wollte man mithilfe der eigenen Marktmacht unter Druck setzen und ihnen de facto verbieten, zu höheren Preisen gekauftes russisches Öl zu transportieren.
Bekanntlich kommt es aber erstens anders, als man es zweitens denkt.
Marktmacht der G7 und der EU hin oder her: Der Markt hält sich nicht an den Preisdeckel. Die Ukraine beklagt, dass russisches Öl derzeit für mehr als 70 US-Dollar pro Barrel gehandelt wird. Das hat das „KSE Institute“ der Kyiv School of Economics ermittelt. Wen wundert’s? Nur einer von drei Öltankern auf den Weltmeeren gehört einem europäischen Reeder, der sich womöglich Sorgen macht und sich an den Preisdeckel hält.
Dazu kommt, dass Moskau selbst eine große sogenannte „Dunkle Flotte“ unterhält: Diese Schiffe gehören entweder Kreml-nahen russischen Unternehmen oder befreundeten Geschäftsleuten – häufig aus Dubai, Hongkong, Singapur oder Indien. Sie transportieren russisches Öl vor allem nach Indien, China oder in die Türkei. Um ihre Spuren zu verwischen, schalten sie ihre Transmitter ab und fälschen ihre Positionsdaten.
Die „Dunkle Flotte“ wird auf mindestens 600 Schiffe geschätzt. Sie laden ihre wertvolle flüssige Fracht so oft um – und vermischen sie dabei mit Öl aus anderer Herkunft –, bis niemand mehr sagen kann, woher das Öl ursprünglich stammt und zu welchem Preis es gehandelt wurde.
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„Russlands Staatsbankrott ist nur eine Frage der Zeit“ (von der Leyen) und „Russlands Wirtschaft wankt“ (Scholz). Wirklich?
Begründete Zweifel am Urteil der beiden deutschen Politiker gab es schon damals, im März 2022. Heute sieht es vollends so aus, als könne man die vollmundigen Einschätzungen komplett in die Tonne treten.
Niemand, wirklich niemand erwartet einen russischen Staatsbankrott. Die EU hat mittlerweile elf (in Zahlen: 11) Sanktionspakete gegen Russland beschlossen – deshalb wurde im Ukraine-Krieg aber keine einzige Patrone weniger verschossen. Und die europäische Volkswirtschaft, die derzeit am schlimmsten taumelt, ist erkennbar nicht die russische.
Sondern die deutsche.