Eine der wesentlichsten Unterschiede zwischen Diktaturen und Demokratien besteht darin, dass keine Entscheidungen ohne vorherige Debatte und sorgfältiges Abwägen aller denkbaren Folgen getroffen werden. Das verzögert schnelles Handeln und kommt vielen immer wieder als Nachteil vor. Diktatoren, ob rechter oder linker Ideologien, wie auch militante Religionsführer haben dieses Problem nicht. Die Entscheidungen fällt im Zweifel eine einzige Person. Mit Widerstand muss nicht gerechnet werden. Wenn solcher sich dennoch regen sollte, wird er brutal niedergeschlagen. Dennoch aber ist die Mühsal der Demokratie alle Anstrengungen wert. Abenteuerliche und ruchlose Entscheidungen sind einfach nicht möglich. Alles und Jedes muss in einer Demokratie nicht nur nach den eigenen Interessen beurteilt werden, sondern ist auch an einen, in aller Regel in der Verfassung, verankerten Wertefundus gebunden. Einsame Tyrannen haben keine Chance.
Die Bürger Russlands erfuhren davon in den Morgennachrichten. Es dürfte sie nicht weiter irritiert haben, denn längst haben sie sich an diese Art der Machtausübung gewöhnt und resigniert. Viele werden auch denken, „lass Väterchen Zar schon machen – er wird wissen, was gut für uns ist“. Für Kritiker ist ja ein sehr gut funktionierender Geheimdienst und eine Befehle ausführende Justiz zuständig.
Dabei ist das, was zur Zeit in Almaty geschieht, von großer Bedeutung. Niemand sollte annehmen, dass die russischen Soldaten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Nach Putins Ansicht sind sie nämlich gerade genau dort, wo sie jetzt sind und die „Ordnung“ wiederherstellen, zuhause. Putin und die Seinen sind bei der Revision, der aus Putins Sicht größten Katastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts, nämlich der Auflösung der Sowjetunion wieder ein großes Stück vorangekommen. Denn zur „ruhmreichen Sowjetunion“ gehörten einst nicht nur das Baltikum und die Ukraine, sondern eine ganze Reihe von heutigen souveränen Staaten in Zentralasien.
Die Erhöhung der Preise für Flüssiggas um 10 Prozent, das den meisten Kasachen aufgrund der extrem hohen Kraftstoffpreise als Antriebsenergie gilt, brachte jetzt das Fass zum Überlauf. Es war der für Diktatoren in aller Welt gefährliche Punkt erreicht, an dem die Verzweiflung der Menschen größer wird als die Angst vor dem Regime. Dieses antwortete schnell und unmissverständlich – mit dem Einsatz von Schusswaffen. Gleich mehrfach wiederholte Staatschef Toqajev seitdem seinen Befehl, es müsse ohne Gesprächsbereitschaft und Vorwarnung auf Demonstranten überall und sofort scharf geschossen werden.
Aber noch etwas anderes dürfte das militärische Eingreifen Putins in Kasachstan verursacht haben. Auch in Russland selbst hat sich die Lage der Bevölkerung über die letzten Jahre immer mehr verschlechtert. Das Geld aus den Rohstoffexporten fließt auch dort zum großen Teil in die Aufrüstung und der Rest in die Taschen weniger. Das Blut auf den Straßen Almatys ist so auch als Warnung für mögliche „vom Westen gesteuerte Unruhestifter“ gedacht. Denn wieder behauptet die russische wie auch die chinesische Propaganda, hinter den Protesten in Kasachstan stünden die feindlichen Absichten der USA. Vor Ort und auch in Moskau glaubt man selbst nicht daran. Widerhall finden solche Märchen lediglich in nicht besonders klugen Kreisen des Westens. Wenigstens das trägt zur Zufriedenheit im Kreml bei.