Über Jahrhunderte hinweg gilt in Europa als empörende Ungerechtigkeit, wenn eine Nation größere oder bessere Stücke der übrigen Welt raubt als die Nachbarn. Die wiederum lauern nur auf die nächstbeste Gelegenheit, Teile der entgangenen Beute an sich zu reißen. Während die unterworfene Menschheit verzweifeln mag, ist man in Europa immer nur maßlos wütend über noch ruchlosere Mitchristen. Nie endendes Misstrauen, dass man ihnen etwas abjagen könnte, durchtränkt die Herrscher von neunzig Prozent der Erde.
Niemand zweifelt daran, dass man Welteroberung kann. Verstanden wird sie allerdings nicht. Als 1770 Neu-Holland zum britischen Australien wird, ist der Kuchen weitgehend verteilt. Ab jetzt gibt es ein Nullsummenspiel. Was der eine gewinnt, muss der andere verlieren. Das alles betreibt man ohne Funk, Elektrizität, Dampfschiffe, Eisenbahnen oder gar Flugzeuge.
Schon 1915 beginnt das Fallen der durchschnittlichen Kinderzahlen pro Frauenleben von in der Spitze 6 auf heute nur noch 1,5, weshalb Europa nach 1945 fast alle Kriege verliert. Während in den Kolonien die Sohneszahlen auf 4 pro Frau hochschnellen, fallen sie daheim auf einen einzigen Jungen und seit den 1970ern, zuerst in Deutschland, noch darunter.
Lange will man nicht hören, obwohl Vietnams Rebellenführer Ho Chi Minh schon 1946 die Franzosen warnt: „Ihr werdet zehn von uns töten, und wir werden einen von euch töten. Ihr aber werdet zuerst erschöpft sein.“ 1954 ziehen sie nach der Niederlage von Dien Bien Phu geschlagen ab. Lernen wollen sie immer noch nicht.
Als letztes westliches Reich fällt 1974 das lusitanische. Die rechte Regierung kämpft erbittert um den portugiesischen Sprachraum, verliert aber die Macht an linke Putschisten und ihre Nelkenrevolution. Russische Freunde des Autors lachen verlegen, wenn sie in Danzig beim Abendbrot hören: „Seid meinethalben stolz, dass Euer Großreich bis 1991 volle 17 Jahre länger durchgehalten hat als Lissabon. Das ist doch ein Riesenerfolg. Mehr ist nicht drin.“
Wie OAS-Generale 1961 den Chef nicht töten können, so scheitern 1991 Russlands Putschisten unter Gennadi Janajew und Marschall Dimitri Jasow gegen Gorbatschow und Jelzin, die den Unterdrückten Autonomie geben wollen. Wie in Westeuropa scheint es gut auszugehen, obwohl mit den Russen verarmte Kolonialherren verzichten sollen, während Jahrzehnte früher im Westen die Verluste in der Ferne mit üppig wachsendem Wohlstand zuhause einhergehen. Und doch wird Russland Europas einziges Reich, wo die Trennung von den nicht mehr haltbaren Eroberungen scheitert.
Auch die meisten Russen verstehen die Gründe der verherrlichten Größe nicht. Zwischen 1840 und 1914 haben ihre Frauen durchschnittlich 7 Kinder. 1914 sind von 1.000 Wehrfähigen weltweit 100 ethnische Russen. 70 davon sind zweite bis vierte Söhne, die von den Generalen verheizt werden. Bei den Eroberungen im Osten verliert man als Helden verehrte Soldaten. Doch nach jedem Töten und Sterben für die Reichsvergrößerung gibt es mehr Tötungs- und Sterbebereite für weitere Zugewinne.
Heute sind von global 1.000 Wehrfähigen nur noch 10 ethnische Russen. Überzählige Söhne gibt es in der vergreisenden Nation überhaupt nicht mehr. Der Kriegsindex erreicht magere 0.8. Beim Putsch von 1991 steht er noch bei 1.5. Damals folgen auf 1.000 ältere Männer von 55 bis 59 Jahre immerhin noch 1.500 Jünglinge zwischen 15 und 19 Jahren. Heute sind es nur noch 800. Die haben alle Optionen. Viele gehen deshalb nur in den Krieg, weil ihnen bei Verweigerung Erschießung droht.
Putins Russen haben keine Angst vor Polen oder Litauern, sondern vor dem Eingeständnis der verlorenen Größe. Ihre Iskander-Nukleargeschosse zielen ganz überwiegend auf eine wirkliche Macht, stehen also an der Grenze zu China. Von den sieben Millionen Quadratkilometern der Region Fernost (elfmal die Fläche der Ukraine) mit kaum vier Millionen ethnischen Russen erobert man bis 1860 knapp eine Million von China und glänzt damit gegenüber allen übrigen Europäern, die sich am Reich der Mitte die Zähne ausbeißen. Heute pachtet China in Nahost riesige Ackerflächen und beschäftigt über 400 Firmen zum Abholzen der Wälder, weil es Russen für solche Unternehmungen schlichtweg nicht gibt.
Ob Russland nun aufgibt und verarmt oder siegt und in der Ukraine die Renten bezahlen muss, Moskau wird in jedem Falls zu einem teuren Wasserkopf, der niemanden mehr mit Schecks ruhigstellen kann. Nicht einmal die Dateninfrastruktur wird noch funktionieren, weil die besten Köpfe das Riesenterritorium, das kein Reich mehr ist, längst verlassen haben. Gouverneure östlich vom Ural werden China dann anstandslos bitten, lediglich gepachtet und nicht auf härtere Weise vereinnahmt zu werden. Spätestens dann verstehen selbst die treuesten Putinisten, dass siebzehn Jahre länger als Lissabon gar nicht so schlecht gewesen wäre.
Gunnar Heinsohn (*1943; emer. Prof. Dr. phil; Dr. rer. pol.) hat von 1993 bis 2009 an der Universität Bremen Europas erstes Institut für vergleichende Völkermordforschung geleitet. 2011 hat er das Fach Kriegsdemographie am NATO Defense College (NDC) in Rom eingeführt und bis 2020 gelehrt.