Tichys Einblick
Interview Teil 1

Russell Berman: „Wir sind auf dem Weg ins Jahr »1984«“

"Wir bewegen uns also in eine neue Welt, in der eine steigende Bereitschaft zur Aufgabe von Grundrechten zu beobachten ist." Ein Gespräch mit Russell Berman, Professor für German Studies in Stanford und ehemaliger strategischer Berater im amerikanischen Außenministerium.

imago images / ZUMA Press

TE: Professor Berman, vor wenigen Wochen haben Sie einen Text von Arnold Vaatz in TE und ein Interview mit Hans-Georg Maaßen aus der Jungen Freiheit im Blog des Magazins Telos veröffentlicht und kommentiert. Wie sind Sie auf diese Veröffentlichungen aufmerksam geworden?

Russell Berman: Als Professor für German Studies beschäftige ich mich vor allem mit Literatur, aber daneben gehört ein Teil meiner Aufmerksamkeit den deutsch-amerikanischen Beziehungen und der öffentlichen Diskussion in Deutschland. Als ich die Veröffentlichungen von Vaatz und Maaßen sah, dachte ich: Das ist auch für das amerikanische Publikum interessant. Deshalb habe ich beide Texte für den Blog der Zeitschrift übersetzt und kommentiert. Zweifellos gibt es viele Unterschiede zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten, aber ich denke, die Ähnlichkeiten sind um vieles größer. Gemeinsamkeiten betreffen zum Beispiel die Aushöhlung freiheitlicher und demokratischer Grundsätze, die Einschränkungen der freien Debatte, die ähnliche Rolle, die die Presse dabei in beiden Ländern spielt, und verschiedene Versionen der »woke culture«.

In Ihrem Kommentar zu dem Maaßen-Interview berufen Sie sich auf Carl Schmitts „Die Tyrannei der Werte“ und schreiben: „Wenn man fordert, dass Bürger einem Standard vorgeschriebener Werturteile folgen müssen, raubt man ihnen die Freiheiten, die ihnen von Gesetzes wegen garantiert sind.“ Nagen die neuen moralisch begründeten Politiken an den Fundamenten unserer liberalen Demokratien?

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Ich denke, das ist so. Es gibt keinen Zweifel, dass Todesfälle durch Covid ein Übel sind, das man vermeiden sollte. Es gibt auch keinen Zweifel, dass Diskriminierung und Rassismus ein Übel sind, das beendet werden sollte. Aber das menschliche Leben ist komplex und umfasst mannigfaltige Dimensionen. Jede Gemeinschaft und jeder Staat treffen Entscheidungen darüber, wie sie verschiedene Güter gegeneinander abwägen. Und es ist beileibe nicht klar, dass es nur eine einzige Lösung gibt. Eindeutig ist vielmehr, dass es mehr als eine diskussionswürdige Lösung gibt.

Lassen Sie mich etwas zur Diskussion um Covid-19 im Besonderen sagen: Ich glaube nicht an die Verschwörungstheorien, ich glaube, dass Masken grundsätzlich eine gute Sache sind, ich bin also ein ziemlicher Zentrist, was diese Fragen angeht. Aber trotzdem ist klar, dass die verschiedenen Lockdown-Maßnahmen einen starken Einfluss auf andere Dimensionen der Gesellschaft haben, vor allem auf die Wirtschaft und die Erziehung.

Wo immer es einen Lockdown gab, hat er die Arbeitslosigkeit erhöht, in Deutschland vielleicht weniger als anderswo, aber grundsätzlich in allen Ländern. Und Arbeitslosigkeit hat Auswirkungen auf die öffentliche Gesundheit. Menschen, die nicht arbeiten, verlieren Fähigkeiten und Qualifikationen. Arbeitslosigkeit kann zu Problemen bei der psychischen Gesundheit führen und setzt Familien unter Druck. Bei Schülern, deren Ausbildung für drei, sechs oder mehr Monate unterbrochen wird, stellt sich die Frage: Wann werden sie diese Verluste wieder aufholen?

Das sind alles Folgen, die die Gesellschaft zu tragen hat. Deshalb glaube ich, es ist wichtig, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Wünschbaren, also die Verbreitung von Covid-19 zu begrenzen, und der Notwendigkeit, junge Menschen auszubilden. Wir müssen in der Lage sein, eine rationale Diskussion darüber zu führen, welchen Weg wir gehen wollen.

Hier an der Universität Stanford gab es kürzlich eine Debatte, in der die Medizinprofessoren sich auf den hippokratischen Eid beriefen, der fordert, »keinen Schaden« zuzufügen. Die Tragödie ist, dass man in diesem Fall, was immer man auch tut, Schaden anrichten wird. Menschen werden entweder sterben oder nicht ausgebildet werden oder arbeitslos sein. Man muss also eine politische Entscheidung darüber treffen, wie man vorgehen will. Das Problem ist, dass eine solche offene Diskussion über verschiedene Handlungsmöglichkeiten in der öffentlichen Sphäre zunehmend unterbunden wird, wie man häufig auf den verschiedenen Internetplattformen beobachten kann.

Aber dasselbe gilt auch für den konkreten öffentlichen Raum. In Deutschland hatten wir politische Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen, die von einer Mehrzahl der Medien nicht gerade begrüßt wurden.

Ich denke, am Ende gehört beides zusammen: Internetforen wie Twitter oder Youtube bilden in einer postmodernen Gesellschaft einen Teil des öffentlichen Raums. Insofern ist eine Zensur, die Twitter oder Apple ausüben, genauso schlimm wie Zensur in der nicht-virtuellen Welt. Demonstrationen sind eine traditionelle, geradezu archaische Art, den öffentlichen Raum zu nutzen. In den Vereinigten Staaten gab es dasselbe Phänomen, als öffentliche Versammlungen unter dem Banner des Antirassismus nicht für fehlende Masken oder Mangel an »social distancing« kritisiert, vielmehr noch gelobt wurden. Wenn es hingegen politische Versammlungen ohne Masken gab, wie die von Donald Trump, wurde das angeprangert. Man muss aber in allen Fällen denselben Maßstab anwenden, sonst hat der Staat seine Neutralität aufgegeben. Der Ruf nach einem neutralen Staat ist tatsächlich eine zutiefst liberale Forderung, im Gegensatz etwa zu Carl Schmitts Auffassung.

Wege aus der selbstverschuldeten Unreife
Kinder an der Macht
Noch bezeichnender für unsere Lage ist vielleicht die Geschwindigkeit, mit der grundlegende Rechte eingeschränkt und abgeschafft wurden, alles im Namen eines Notstands, des ›Covid- Notstands‹. Wir haben die Versammlungsfreiheit verloren, das Recht auf freie Religionsausübung, Ausbildung und so vieles noch. Aber all diese Einschränkungen kamen sehr schnell, ohne dass sie juristisch großartig überprüft worden wären. Letzten Endes haben die Gerichte eine gewisse Rolle gespielt, in Deutschland genauso wie in den USA. Aber im Grunde haben wir in beiden Ländern gesehen, wie Grundrechte über Nacht ausgehebelt wurden. Präsidentschaftskandidaten der Demokraten haben inzwischen angekündigt, dass sie ähnliche Befugnisse auch benutzen würden, um auf einen noch zu definierenden »Umweltnotstand« zu reagieren, oder um den Waffenbesitz einzuschränken. Wir bewegen uns also in eine neue Welt, in der eine steigende Bereitschaft zur Aufgabe von Grundrechten zu beobachten ist – und eine Bereitschaft von Politikern, ihre exekutive Autorität zu benutzen, um Kontrolle auszuüben. Das ist keine liberale Demokratie mehr.

Die Aufgabe der »liberalen Demokratie« wird in Deutschland gerne rechtsgerichteten Parteien und Regierungen von Nachbarländern vorgeworfen. Ist es – im Gegensatz zur öffentlichen Rhetorik – eigentlich die in Deutschland regierende Große Koalition, die an »illiberalen Tendenzen« im Westen teilhat?

Was ich gerade beschrieben habe, gilt im selben Maße für Deutschland wie für die Vereinigten Staaten. Natürlich gibt es Unterschiede: Sie haben ein parlamentarisches System, wir nicht. Sie haben normalerweise Koalitionsregierungen, wir nicht. Bemerkenswert finde ich, dass es der Kanzlerin erneut gelungen ist, eine Große Koalition zu schmieden, was zu einer weitgehend marginalisierten und zersplitterten Opposition geführt hat. In der sitzen eine Menge kleiner, manchmal sehr exzentrischer Parteien. Auf der anderen Seite haben Sie praktisch eine »Einheitspartei« [Berman benutzt das deutsche Wort], die das Land regiert und dabei auch das Parlament dominiert. Im Vergleich dazu zeigt sich das parlamentarische Leben in den Vereinigten Staaten sehr viel lebendiger. Ich würde nicht sagen, dass wir im Moment eine besonders gesunde Situation erleben, aber in der politischen Sphäre der USA gibt es eine Debatte, die im heutigen Deutschland meines Erachtens so gut wie nicht stattfindet.

In den großen deutschen Zeitungen finde ich sehr selten Kritik an der Bundeskanzlerin und wenn, dann nur zu nachgeordneten Punkten, während die Amerika-Berichterstattung der deutschen Presse im Grunde aus einem großen, fortgesetzten Plagiat der New York Times besteht. In beiden Ländern gibt es eine Art Einheitsdenken in einem großen Teil der seriösen Presse. In dieser Prestige-Presse finden Sie keine große Meinungsvielfalt. Der Unterschied besteht darin, dass die Prestige-Presse in Deutschland sozusagen dem Lesepublikum ihr Einheitsdenken
aufzuzwingen versucht.

Begrenzt wird diese Tendenz durch das, was ich den Wandel der Öffentlichkeit nenne. Alternative Positionen können sich heute leicht online verbreiten, werden dabei aber üblicherweise als Verschwörungstheorien denunziert, die nur von Bot-Accounts verbreitet würden. Aber tatsächlich existiert Leben außerhalb der New York Times oder der Frankfurter Allgemeinen.

… zum Beispiel im Twitter-Feed von Donald Trump, der inzwischen, glaube ich, zweimal von Twitter zensiert wurde.

Trump ist nicht der erste Präsident, der Twitter nutzt. Auch Obama hat noch als Präsident getwittert. Es gibt eine Tendenz, aus einer Art intellektueller Arroganz heraus auf Trump herabzublicken, weil er Twitter benutzt, im Sinne von: Wie komplex kann eine Ansicht sein, die sich in 140 Zeichen mitteilen lässt? Aber als Obama dasselbe tat, lobten ihn dieselben Leute, weil er so cool war. Ich denke, das eigentliche Thema ist: Wir haben – um noch einmal den Habermas-Begriff zu verwenden – einen »Strukturwandel der Öffentlichkeit« im Zeitalter des Internets.

Als das Internet entwickelt wurde, priesen es die Leute als eine Demokratisierung der öffentlichen Kommunikation, eine Art Verwirklichung von Brechts Radiotheorie: Jeder kann sprechen und mit anderen kommunizieren. Und jetzt haben wir diesen Zustand, und die Elite ist entsetzt, weil die Menschen sich nun tatsächlich mitteilen können und die NYT oder die FAZ nicht mehr die Gatekeeper sind. Es gibt bestimmt eine Menge von Abscheulichkeiten, die dort jeden Tag geteilt werden, was ich nicht unterstütze, aber ich bin – ganz im Sinne Voltaires – dafür, dass Menschen das Recht haben, sich zu äußern. Unglücklicherweise versuchen liberale Journalisten häufig, das zu unterdrücken. Faktisch bilden aber Twitter, Facebook und ähnliche Foren die öffentliche Sphäre des 21. Jahrhunderts. Die Tatsache, dass die Zensur auf diesen öffentlichen Marktplätzen inzwischen eine institutionalisierte Form angenommen hat, ist besorgniserregend. Denn das richtet sich nicht nur gegen den Präsidenten, sondern auch gegen ganz normale Menschen, die einen abweichenden Standpunkt vertreten. Das Datum erscheint anachronistisch, aber wir sind auf dem Weg ins Jahr »1984«.


In Teil 2 des Interviews geht es morgen um die anstehenden US-Wahlen, die Debatte um Black Lives Matter und Trumps Erfolge in vier Jahren Präsidentschaft.


Russell A. Berman, geboren 1950 in Boston, ist Professor für German Studies und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Stanford und Senior Fellow der konservativen Hoover Institution. Bis vor kurzem war er außerdem als Senior Advisor für das State Department unter Mike Pompeo tätig. Seit 2004 ist er Herausgeber (inzwischen Emeritus) von Telos, einem Magazin, das eine »kritische Theorie der Gegenwart« anstrebt. Den Anlass für dieses Interview gab sein Interesse an der deutschen Diskussion um die Coronapolitikfolgen.

Anzeige
Die mobile Version verlassen