Tichys Einblick: Professor Berman, am Ende des zweiten Teils unseres Gesprächs haben Sie eine tiefe Kluft zwischen den beiden politischen Lagern in den USA festgestellt. 1994 haben Sie einen Artikel über die „Kultur in der konservativen Revolution“ veröffentlicht. Sie schrieben damals, dass „einst randständige oder sogar extreme Positionen“ der Mitte näher gerückt waren. Durch ideologische Argumente hätte die alte „Normalität“ Washingtons begonnen sich aufzulösen. Ist die Politik in den Vereinigten Staaten seitdem noch ideologischer geworden?
Russell Berman: Traditionell waren die beiden großen Parteien in den USA weniger ideologisch. Jede der beiden war eine Koalition verschiedener Gruppen. Und in jeder der beiden Parteien gab es eine Spannbreite von Positionen: es gab konservative und liberale Demokraten, ebenso liberale und konservative Republikaner. Es gab eine beachtliche Überlappung der Liberalen in beiden Parteien, bis in die 1980er Jahre hinein. Seitdem haben wir eine zunehmende Polarisierung des Landes erlebt, und so wurden auch die beiden Parteien ideologischer. Es gibt immer noch eine Bandbreite von Anschauungen in beiden Parteien, aber es gibt praktisch keine Überlappungen mehr. Sie stehen sich inzwischen wie zwei Schenkel eines rechten Winkels gegenüber. Bei den Republikanern gibt es heute – schematisch gesagt – Wertkonservative und Freier-Markt-Konservative, die in der Reagan-Ära zusammengeschweißt wurden. Auf der demokratischen Seite gibt es noch einige arbeiter- und gewerkschaftsorientierte Demokraten, aber daneben dominieren heute die „Haltungsdemokraten“, für die der Umweltgedanke und die Identitätspolitik wichtiger sind als soziale Fragen.
Daneben gibt es auch den Wandel der öffentlichen Sphäre. Das Gatekeeping der öffentlichen Meinung, dass also einzelne Akteure bestimmen können, was gesagt werden kann und was eine mögliche oder akzeptable Position ist, diese Rolle kam einst nur der New York Times und der Washington Post zu. Aber heute haben wir das Internet. Inzwischen gibt es allerdings auch Hinweise, dass sich die Menschen je nach bevorzugter Partei in verschiedenen Landkreisen ansiedeln. Es gibt heute blaue und rote Landkreise. Die Menschen leben gerne mit Menschen zusammen, die ähnlich denken wie sie selbst.
Das wäre also sozusagen die Polarisierung des Landes auf der Kreisebene. Aber noch etwas anderes: Ist nicht auch die von Ihnen angesprochene „woke culture“ Ausdruck einer gewissen Radikalisierung? Nehmen Sie Kamala Harris, sie war früher eine harte Staatsanwältin, die für hohe Strafen eintrat, und heute predigt sie die Identitätspolitik. Das wird ja auch von ihr instrumentalisiert, wie mir scheint.
Ja, und ich denke, die Menschen merken, dass man ihr im Grunde nichts glauben kann. Ich denke sehr viel über Wokeness nach. Einiges daran ist sicher moderne Pathologie, aber anderes hat tiefere Wurzeln. Es ist eine Art von religiösem Fanatismus darin, der an die Hexenprozesse des 17. Jahrhunderts erinnert. Das ist auch Teil der amerikanischen Geschichte. Wir haben Mobs gesehen, die durch die Straßen ziehen und Statuen stürzen. Das waren Lynchmobs, und ich frage mich nur, wann sie beginnen werden, Jagd auf lebendige Menschen zu machen, nicht mehr nur auf Statuen. Es ist etwas sehr Irrationales und Ignorantes in diesem Bildersturm – übrigens ein weiterer religiöser Aspekt.
Dass die Leute der BLM-Bewegung die Statuen von Generälen der konföderierten Armee niederreißen, könnte man ja noch verstehen. Aber in den Vereinigten Staaten waren es nicht nur die Helden der Konföderierten, die fallen mussten. In San Francisco, im Golden Gate Park, hat ein Mob die Statue von Ulysses Grant gestürzt, der im Bürgerkrieg gegen die Sklaverei kämpfte. Nicht viel besser erging es der Gedenkstätte für Robert Shaw und das 54th Massachusetts Regiment in Boston, wo ich aufgewachsen bin. Das war das erste schwarze Regiment, das im Bürgerkrieg auf der Seite des Nordens gekämpft hat, und es wurde mit Graffiti besprüht. An anderen Orten wurden sogar die Statuen berühmter Abolitionisten gestürzt.
Übrigens hat Emmanuel Macron gesagt, er wolle nicht, dass auch nur eine Statue gestürzt wird, nicht einmal die eines französischen Monarchen. Die gesamte Nationalgeschichte muss erhalten bleiben, nicht nur die der französischen Republik. Ich bewundere diese Position, auch wenn ich nicht unbedingt ein Macron-Fan bin. Was mir auffällt, ist ein radikaler Antihistorismus, die Zurückweisung jeder Repräsentation der nationalen Geschichte im öffentlichen Raum und die Ablehnung der Rechtsstaatlichkeit. Wenn nun ein Stadtrat entscheiden würde, wir wollen diese Statue nicht mehr haben, lasst uns darüber diskutieren und abstimmen, dann könnte er das natürlich tun. Aber diese Entscheidung dem Mob zu überlassen, ist schrecklich.
Inzwischen werden leider noch andere Dinge dem Mob überlassen, im Grunde der gesamte öffentliche Raum. Wenn beispielsweise eine Menschenmenge von den Kunden eines Washingtoner Restaurants verlangt, ihre Fäuste in Solidarität zu heben – egal ob sie wollen oder nicht.
Ja, das ist furchtbar. Das ist eine mit moralischer Empörung getränkte, letztlich totalitäre Handlungsweise, einschließlich der Bereitschaft zur Gewalt gegen den politischen Gegner.
Können Sie etwas zu den philosophischen Ursprüngen dieser Bewegung sagen? Gibt es da irgendeine Substanz?
Man kann sicher Grundlagen dieser Bewegung bei Michel Foucault und in der jüngeren kritischen Rassentheorie finden. Aber ich würde die intellektuellen Ursprünge einer Bewegung, die vor allem eine Pathologie der Ignoranz ist, nicht überbewerten. Habermas hat bekanntlich einige Aspekte der Studentenbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre als „Linksfaschismus“ bezeichnet, und ich denke, das ist eine angemessene Beschreibung gewisser Aspekte der aktuellen Bewegung in den Vereinigten Staaten.
Was würde passieren, wenn Trump die Wahl verliert? Was, wenn Biden verliert? Eines von beidem muss passieren. Erwarten uns Unruhen?
Hier gilt es drei Ebenen zu beachten. Erstens: Es könnte Wahlanfechtungen von der einen und der anderen Seite geben, so dass die Entscheidung in vielen Fällen letztlich bei den Gerichten läge. Das ist keine gute Sache, idealerweise sollte es eine eindeutige Entscheidung durch die Wähler geben. Aber bei einer knappen Stimmendifferenz würden – zumal in einem wahlentscheidenden Bundesstaat – sicher die Gerichte angerufen werden. Zweitens: Wenn der Wahlausgang insgesamt nicht eindeutig ist, aber vielleicht sogar wenn er es ist, wird die verlierende Seite sehr aufgebracht sein. Ich denke, es ist wahrscheinlicher, dass wir wütende Biden-Unterstützer sehen werden, die demonstrieren und gegen einen Trump-Sieg vielleicht auch gewaltsam rebellieren. Ich glaube nicht so sehr an Unruhen in Unterstützung für Trump. Das wäre zumindest das erste Mal, dass so etwas passiert. Sicher gibt es extreme Gruppen auch auf dieser Seite, aber es gab noch keine Anzeichen, dass sie in größerem Ausmaß gewalttätig werden könnten. Und zum dritten wird bekanntlich viel davon geredet, ob Trump das Weiße Haus verlassen würde, wenn er verlieren sollte. Die Demokraten verbreiten Schauergeschichten in diesem Sinne. Aber ich denke, das ist einfach nur Unsinn.
Sie haben mir vor diesem Gespräch verraten, dass sie auf Trumps Wiederwahl hoffen. Aus welchen Gründen?
Wenn Trump sein Programm umsetzt, könnten wir ein höheres Wirtschaftswachstum erzielen. Das bedeutet höhere Beschäftigungsraten, vor allem auch die Reduktion der Arbeitslosigkeit an den Rand gedrängter Bevölkerungsteile. Daneben tritt Trump – wie ich meine, zu Recht – für eine gerechtere Welthandelspolitik ein, die wiederum die amerikanische Wirtschaft positiv beeinflussen könnte. Ich habe schon von der kulturellen Agenda gesprochen, also der Stärkung eines positiven Nationalbewusstseins, wie Trump es vertritt. Ich denke, das sind die wichtigsten Schauplätze, auf denen er etwas bewirken könnte, wenn er über einen kooperativen Kongress verfügt. Auf der anderen Seite befürchte ich, dass ein Sieg Bidens zu einer langfristigen Stärkung der woken Radikalen führen würde.
Könnte Biden das Amt überhaupt ausüben?
Ich habe mir heute morgen Gedanken darüber gemacht, wie man das am besten beschreiben kann. Einen Präsidenten Biden könnte man sich vorstellen wie den Reichspräsidenten Hindenburg, aber ohne militärische Verdienste: alt und weit weg von der Wirklichkeit. Tatsächlich kann Biden ja kaum einen vernünftigen Satz vollenden. Die Frage wäre also: Wer hat wirklich die Macht, wenn er ins Weiße Haus käme? Ich kenne die Antwort nicht. Könnte er für vier Jahre amtieren? Vielleicht nicht, und dann hätten wir Präsidentin Harris.
Ich habe im übrigen keine großen Hoffnungen, dass die EU irgendwann Russland oder China die Stirn bieten könnte, gerade auch in der Frage der Menschenrechte. Das würde ich mir zwar wünschen, aber ich glaube nicht, dass es passieren wird. Wenn Angela Merkel sagt, sie wünsche sich eine europäische Antwort auf Nawalny, bedeutet das im Grunde, dass es keine Antwort geben wird, weil die EU niemals zu einer Entscheidung kommen kann. Deshalb sind es heute die Vereinigten Staaten, die an der Seite Hongkongs, der russischen Opposition und der Osteuropäer stehen. Noch einmal: Die Wahl am 3. November wird sich nicht auf dem Feld der Außenpolitik entscheiden. Aber ich glaube, dass die Befreiung Mittel- und Osteuropas – von Estland bis Bulgarien – eine der großen Errungenschaften des späten 20. Jahrhunderts war. Und ich bin nicht überzeugt, dass eine demokratische Regierung an der Seite dieser Länder stehen würde.
Als der Gesetzentwurf für Obamacare zur Abstimmung anstand, sagte Nancy Pelosi die später berühmt gewordenen Worte: „Wir müssen für den Gesetzentwurf stimmen, bevor wir wissen, was in ihm steht.“ Das ist die Außenpolitik von Joe Biden: Lasst ihn uns wählen, danach sehen wir, was er tun wird. Aber das ist eine massive, welthistorische Verantwortungslosigkeit. Übrigens gibt es nicht weit von dem gestürzten Ulysses-Grant-Standbild in San Francisco noch immer den „Nancy Pelosi Drive“, eine nach der Frau benannte Autostraße.