Der britische Lockdown des Jahres 2020 sollte angeblich 480.000 Leben retten. Das behauptete der am Londoner Imperial College beheimatete Epidemiologe Neil Ferguson im Frühjahr 2020 in seiner inzwischen berühmt-berüchtigten Hochrechnung. Bis zu 500.000 Briten wären demnach ohne Lockdown am Virus gestorben. Durch die fast vollständige Unterdrückung des gesellschaftlichen Lebens blieb es laut Berechnung bei 20.000. In Wahrheit wurden durch die Lockdowns in ganz Europa 6.000 Todesfälle verhindert, wie eine neuere Studie der Johns-Hopkins-Universität und der Universität Lund ergab. Man kann sich in etwa ausrechnen, wie wenige Leben der heiß umkämpfte britische Lockdown „rettete“. Vermutlich waren es einige hundert.
Vom Lockdown betroffen waren aber nicht nur die Pflegeeinrichtungen, in denen durch Viren aller Art gefährdete Senioren lebten. Betroffen waren natürlich alle Briten und praktisch alle Wirtschaftsbereiche, etwa durch das Schließen von Geschäften und Betrieben. Arbeiten von Zuhause wurde zum Normalfall, ebenso der mit der Beschreibung „ineffizient“ noch beschönigte Fern-Schulunterricht. Daneben sollten sich die Menschen auch privat meiden. Kleinere Treffen höchstens im Garten. Aber wie kam man dort hin? Oft stand das Haus im Weg, das man bei Strafe nicht betreten durfte.
Einen Einblick in die damaligen Entscheidungsprozesse bot nun der ehemalige Schatzkanzler und Kandidat um den Parteivorsitz der Konservativen Rishi Sunak in einem großen Interview mit dem Wochenmagazin Spectator. Sunak inszeniert sich darin als Whistleblower und Dissident in Sachen Lockdown-Verhängung und erzählt, man habe ihm sogar das Fragen nach den Kosten und Nebenwirkungen des Lockdowns verboten. Wörtlich: „Man erlaubte mir nicht, den Zielkonflikt (trade-off) anzusprechen.“ So versucht Sunak wohl auch, sich letzte Punkte im Rennen um den Tory-Vorsitz, das er vermutlich verloren hat, zu verdienen.
Als der öffentliche Diskurs versiegte
Ein bisschen bestätigt er so freilich seinen Ruf als relativ junger und unerfahrener Politiker. Denn öffentlich folgte er meist dem Skript, das das Büro des Premierministers verteilte und das lautete: „Es gibt keinen Zielkonflikt, denn was gut für unsere Gesundheit ist, ist gut für die Wirtschaft.“ So wurde Sunak zum britischen „Posterboy“ der Pandemie – zu jenem Politiker, dem die Menschen vertrauten und von dem sie Führung erwarteten, die sie allerdings nur in Maßen bekamen, wie wir heute erfahren. Und das war nicht allein Sunaks Schuld.
Meist sprach aber auch Sunak die kritischen Punkte nur intern an. Darin ging es vor allem um die Auswirkungen auf die Wirtschaft, aber auch auf Schulkinder. Vor allem kritisiert Sunak inzwischen das „Angst-Narrativ“, das von den Lockdown-Befürwortern eifrig gesponnen wurde. Die Plakate mit Covid-Patienten mit Sauerstoffmaske seien das Schlimmste gewesen: „Es war falsch, Menschen in dieser Weise Angst einzuflößen.“ Im September 2020 sagte Sunak auch öffentlich, dass die Briten wieder lernen müssten, „ohne Angst zu leben“. Das Cabinet Office beim Premierminister war angeblich „sehr ärgerlich“ über diese Worte. Johnson hatte sich gewendet, war durch eigene Krankheit zum Lockdown-Fan geworden – vermutlich auch, weil die mediale Öffentlichkeit des Königreichs genau das von ihm erwartete.
Doch auch Sunak ärgerte sich, nämlich über die Quasi-Alleinherrschaft, die die Politik dem wissenschaftlichen Beirat SAGE einräumte, indem sie ihr eigenes – politisches – Handeln als „Wir folgen der Wissenschaft“ erklärte. Im Interview mit dem Spectator beklagt Sunak, dass es keinen ebenso machtvollen Wirtschaftsbeirat gab (und gibt). Und niemand wusste, wie SAGE überhaupt zu seinen Beschlüssen und Empfehlungen kam. Sunak erfuhr in jener Zeit durch Zuträger, dass das SAGE abweichende Meinungen unterdrückte. Sie kamen in den Berichten schlicht nicht vor.
Eine Frage „grundlegender Kompetenz“
Daneben will Sunak schon im Mai 2020 bewirkt haben, dass auch nicht covid-bedingte Folgen für die allgemeine Gesundheit in einem Papier vorkamen. Die Diskussion – nicht nur in Großbritannien – hatte zu diesem Zeitpunkt jedes Nachdenken über die Nebenwirkungen der Lockdowns aufgegeben, wie nicht zuletzt der Fall Stephan Kohn zeigt. Kohn, damals Beamter im Innenministerium, hatte eben im Mai 2020 eine Risikoanalyse geschrieben, die die Gefahr durch ein neues Virus mit den Risiken des Lockdowns abglich. Er wurde noch zwei Jahre danach von einem deutschen Gericht verurteilt, das Beamtenverhältnis wurde aufgelöst – auch wirtschaftlich ein einschneidender Schritt für den Betroffenen.
Das britische Schatzamt – so Sunak – würde niemals eine Politik vertreten, ohne die Hintergründe von Modellierungen zu verstehen. Das sei eine Frage „grundlegender Kompetenz“. Mit solchen Sätzen redet sich Sunak in die Herzen von Lockdown-Skeptikern weltweit. Für ein Jahr wurde die Politik der britischen Regierung und das Schicksal von Millionen Briten durch „halb erklärte Graphen“ entschieden. Doch Sunak weist auch auf die tiefere Malaise hinter diesem Beraterwesen hin: „Genau das ist das Problem. Sobald man diesen unabhängigen Personen Macht gibt, ist man geliefert (screwed).“
Gemeint ist: In der parlamentarischen Demokratie obliegen politische Entscheidungen den Volksvertretern – nicht Experten, so kompetent und „unabhängig“ sie auch sein mögen. Der Rat der Experten muss insofern transparent kommuniziert werden, damit er überhaupt in politisches Handeln einfließen kann. Das war die grundlegende Forderung Sunaks in diesem Zusammenhang. So stimmt er auch zu, dass man die allgemeinen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Lockdown-Politik ebenfalls mit ins Bild einbeziehen hätte müssen. Erst um Weihnachten herum gab es eine größere Rebellion der Abgeordneten gegen die Tyrannis der „Gesundheitsexperten“. In Deutschland warten wir bis heute auf Ähnliches.
„Wir hätten Wissenschaftlern nicht diese Macht geben sollen“
Das SAGE trieb allerdings auch auf der Insel weiter sein Unwesen, phantasierte im vergangenen Dezember noch etwas von 6.000 Toten am Tag durch die Omikron-Variante (am Ende gab es höchstens ein Zwanzigstel davon). Man kann den Beirat gut mit unserem Viruspanikminister vergleichen, der auch schon gefühlt dutzende Mal die „Killervariante“ heraufbeschwor. Sie kam nie, langsam sollte man damit aufhören, dem falschen Alarmisten zu glauben.
Sunak konnte, dank alten Kontakten nach Stanford, die zwölf SAGE-Szenarien für die Omikron-Variante als starke Übertreibung entlarven. Doch noch einmal, so der Politiker, griff das Gruppendenken oder auch das Räderwerk eines neuen Lockdowns. „Das System richtete sich sozusagen von neuem auf.“
Als Lehre aus dem Covid-Lockdown-Desaster – das finanziell wie menschlich und gesundheitlich ein solches war – zieht Sunak die folgende Erkenntnis: „Wir hätten Wissenschaftlern nicht diese Macht geben sollen. Und man hätte von Anfang an die Zielkonflikte (trade-offs) berücksichtigen müssen. Hätten wir das getan, wären wir heute ganz woanders.“ So hätte man etwa andere Entscheidungen über die Schulen fällen müssen. In Deutschland liegen die Dinge bekanntlich noch etwas anders: Hier steht ein „Master of Public Health“ dem Gesundheitsministerium vor und vertritt so quasi „Wissenschaft“ und Wählervolk in einem Atemzug. Ein distinkt totalitärer Geruch umweht diesen Mann. Als politischer Minister ist Lauterbach schon lange erledigt. Er hält sich dank seiner rhetorisch beschworenen Macht über Leben und Sterben in der „Pandemie“.
Das Thema Zielkonflikte lässt sich für Großbritannien noch ausarbeiten: Die NHS-Warteliste wird in den nächsten Jahren (bis 2024) von sechs auf neun Millionen anwachsen. Tausendfach werden Menschen an Krebs sterben, der zu spät erkannt wurde. Zudem fehlen dem britischen Arbeitsmarkt 300.000 bis 400.000 Arbeitskräfte. 5,3 Millionen Briten finanzieren sich dort derzeit über Sozialleistungen. Allerdings muss man hier auch sagen, dass Sunak selbst es war, der die Kurzarbeit im großen Maßstab einführte und sich ans Revers heftete. Auch die Idee des Lockdowns will er am Ende nicht in Bausch und Bogen ablehnen. Was er sich wünscht, wären Offenheit, Freimut und eine „erwachsene Diskussion“ über die Folgen jeder Politik. Die Politik und vor allem die Medien wirkten stattdessen an der Hysterisierung des Bürgers mit.
In Spanien wies das Verfassungsgericht auf die Illegalität des Lockdowns hin: Quarantäne ist etwas anderes
Die Argumente von Ex-Schatzkanzler Sunak, der der neuen Regierung unter der vermutlichen Premierministerin Liz Truss wohl nicht angehören wird, waren durch und durch pragmatisch. Im Gegensatz dazu haben in Spanien und anderswo auch Gerichte über Lockdown-Maßnahmen entschieden. So entschied das spanische Verfassungsgericht schon im Juli 2021, dass der zehnwöchige Lockdown des Vorjahres, erlassen von Premier Pedro Sanchez, ungesetzlich war. Quarantäne, so urteilten immerhin sechs von elf Richtern, bedeute, kranke Personen zu isolieren. Es handele sich dabei um eine „zeitweilige Aufhebung“ der Grundrechte (vor allem der Bewegungsfreiheit), nicht deren dauerhafte Beschränkung für Gesunde, und erlaubt wäre das Ganze nur in einem echten Notstand gewesen. Doch der Sozialist Sanchez hatte nur den weniger gravierenden „Alarmzustand“ ausgerufen, der nicht vom Parlament bestätigt werden muss.
Auch in Italien gab es früh Einwände gegen die Einschränkung von Grundrechten per Erlass und die Verwandlung eines Notstands der „öffentlichen Gesundheit“ in einen der „öffentlichen Sicherheit“. Das letztgenannte Phänomen lässt sich auch in Deutschland beobachten, etwa wo das Demonstrationsrecht eingeschränkt wurde. In beiden Ländern lässt sich eine gewisse Trägheit beobachten, nachdem der Grundrechtsentzug einmal geschehen ist, auch wenn Italien zumindest über den Sommer vollständig öffnete. Was uns hierzulande – mit Masken im 9-Euro-Zug – nicht vergönnt war.