Die Provinz Guangdong mit der Hauptstadt Guangzhou ist traditionell Vorreiter bei den marktwirtschaftlichen Reformen in China gewesen. In diesem Gebiet, in dem es das ganze Jahr über warm oder heiß ist, leben 110 Millionen Menschen und hier herrscht ein besonderer unternehmerischer Spirit.
Deng Xiaoping, der Vater der marktwirtschaftlichen Reformen, besuchte im Januar 1992 die Sonderwirtschaftszone Shenzhen und gab Interviews, die überall in China beachtet wurden. Er verbrachte fünf Tage in Shenzhen und war selbst über das Ausmaß des Wandels erstaunt, da er seit 1984 nicht mehr dort gewesen war. Er war beeindruckt von Prachtalleen, gläsernen Hochhäusern, quirligen Einkaufsstraßen und einer schier endlosen Zahl an Fabriken. Die Menschen waren modisch angezogen, besaßen schicke Armbanduhren, Kameras und andere höher wertige Konsumartikel. Das Einkommen lag drei Mal höher als im übrigen China. Dengs demonstrative „Südreise“ ging in die Geschichte ein. Sie fand große Beachtung in den chinesischen Medien, denn Deng kritisierte offensiv die Reformgegner. Nach Dengs Rückkehr nach Peking druckte die „Volkszeitung“ einen viel beachteten Leitartikel mit der Überschrift „Seid mutiger mit Reformen“.
„Kaum einer glaubt noch an Karl Marx“
Ich besuchte diese Region im Dezember ein zweites Mal, nachdem ich schon im August 2018 da gewesen war. Eingeladen war ich von meinem chinesischen Buchverlag, in dem vier meiner Bücher erschienen sind. Diesmal sprach ich mit Vertretern eines privaten Thinktanks. Der Leiter gehört weder der Kommunistischen Partei noch einer der anderen acht „Parteien“ in China an. „Vielleicht werden wir die letzten Verteidiger des Kapitalismus sein“, meinte einer meiner Gesprächspartner. Dass in Europa und den USA sozialistische Ideen eine Renaissance erfahren ist für ihn ebenso unverständlich wie die Klimahysterie in Deutschland. „Hier in China glaubt kaum noch einer an die Ideen von Karl Marx“.
Land der Widersprüche
In zehn Tagen in China habe ich niemanden vom Klimawandel sprechen hören, mit Ausnahme einer 21jährigen Studentin, die vegan lebt, weil sie etwas für Tierschutz und gegen den Klimawandel tun möchte. Da ich selbst Vegetarier bin, war ich überrascht, wie viele sehr gute vegetarische Restaurants es hier gibt, sogar solche mit Michelin-Sternen. Aber Klimahysterie gibt es hier keine, dafür aber mehr Elektroautos und Elektromotorroller als ich je in Deutschland in einer Stadt gesehen habe. Daran muss man sich als Fußgänger übrigens erst gewöhnen, denn die vielen Motorroller fahren völlig geräuschlos, was schnell zu gefährlichen Situationen führen kann, wenn man gewohnt ist, durch Motorgeräusche auf schnell fahrende Fahrzeuge aufmerksam zu werden.
China ist ein Land der Widersprüche: Ich war in einem „Innovation and Entrepreneur Hub“ in Shenzhen, wo junge Unternehmer an modernen Robotern und anderen Erfindungen arbeiten, finanziert von Venture Capital-Firmen und gefördert vom Staat. Vor dem Eingang steht in riesigen Lettern „Whats NEXT?“ – eine Erinnerung an die Firma von Steve Jobs, die er nach seinem Ausscheiden von Apple gründete. Im Eingangsbereich des Gebäudes findet man Filme und Fotos, die von modernem Unternehmergeist zeugen, daneben ein Foto von Karl Marx und dem „Kommunistischen Manifest“.
Beeindruckt haben mich der unternehmerische Geist und der Hunger der Chinesen nach Aufstieg und Reichtum. Ich war eingeladen zu einem Vortrag an der Peking University HSBC Business School in Shenzhen. Der Beginn war Freitag, 19.30 Uhr. Der Raum war überfüllt mit über 800 Studenten (die Business School hat insgesamt 1.000 eingeschriebene Studenten). Manche mussten sogar stehen oder auf den Fensterbänken des Hörsaals sitzen, weil kein Platz mehr war. Thema des Vortrages waren die „Sieben wichtigsten Faktoren, um reich zu werden“. Wie viele Studenten einer westlichen Universität würden Freitag Abend fast drei Stunden einen Vortrag hören und diskutieren, wie man reich wird? Ich vermute, in Universitäten in Europa und den USA würde man auf mehr Begeisterung mit Vorträgen über die Übel des Kapitalismus stoßen, ein Thema, das Chinesen dagegen weltfremd vorkäme.
Auch die Frauen wollen reich werden
Ich habe Vorträge in den Städten Shanghai, Shenzhen und Guangzhou gehalten. Auffällig war der große Frauenanteil unter den Zuhörern. In Deutschland sind bei Vorträgen zu Finanz- und Wirtschaftsthemen die Männer stets deutlich in der Überzahl, in China ist das anders. Aus Umfragen in Europa und den USA wissen wir, dass im Westen die Zahl der Frauen, die reich werden wollen, deutlich geringer ist als die der Männer. Entsprechende Umfragen aus China kenne ich nicht, aber es scheint so, dass sich hier mindestens ebenso viele Frauen wie Männer für die Ideen von Erfolg und Reichtum interessieren.
Man sagt, die Asiaten denken kollektivistisch, während wir im Westen individualistisch denken. Doch das stimmt nur mit Einschränkungen. In mancher Hinsicht sind Chinesen heute individualistischer: Frauen beispielsweise versuchen nicht, durch Quoten und politische Forderungen ihre Situation zu verbessern, sondern durch individuelles Leistungs-, Bildungs- und Reichtumsstreben.
In den Gesprächen mit Journalisten, die ich hier hatte, fragte keiner, ob es sinnvoll ist, nach Reichtum zu streben oder ob das nicht sehr oberflächlich sei. Die Menschen wollten nur wissen, wie man reich werden kann. Unternehmertum und das Streben nach Reichtum gelten nicht als anstößig. Unternehmer wie Steve Jobs und Jack Ma werden bewundert: Im Büro eines privaten Thinktanks hängen große Fotos von Jobs und Ma an der Wand.
Englischkenntnisse schlechter als erwartet
Überraschend war für mich, dass die Englischkenntnisse der meisten Chinesen trotz der Öffnung nach außen nach wie vor schlechter sind, als man denken könnte. An der Rezeption eines „Hampton by Hilton“-Hotel sprach niemand Englisch, die Taxifahrer sowieso nicht. So kann eine Taxifahrt zu einem kleinen Abenteuer werden, weil eine Kommunikation mit dem Fahrer unmöglich ist. Selbst an den internationalen Flughäfen und in Spitzenhotels trifft man auf viele Chinesen, die kaum oder gar nicht Englisch sprechen. Nur in einem Hotel wie dem beeindruckenden „Four Seasons“ in Guangzhou ist das anders. Aber selbst im Hilton-Hotel in Shenzhen sprachen an der Rezeption die meisten Mitarbeiter nur gebrochenes Englisch. Auch chinesische junge Unternehmer sprechen oft nicht oder nur wenig Englisch, da sie stark auf den eigenen Markt konzentriert sind.
Doch das war in Deutschland in meiner Jugend auch nicht viel anders und hat sich hierzulande erst in den letzten Jahrzehnten geändert.
Kritisch diskutierte ich mit meinen Gesprächspartnern über die fehlende politische Freiheit und Meinungsfreiheit. Ein Wissenschaftler, der einige Jahre in den USA gelebt hatte, räumte ein, dass es sehr enge Grenzen für die Meinungsfreiheit in China gibt – besonders, wenn es um Kritik am politischen System oder der Führung geht. Andererseits war er verstört über die Political Correctness an US-Universitäten, wo ein „falscher“ Satz als sexistisch oder rassistisch gedeutet werde und zum sofortigen Karrieeende führen könne.
Bedeutung des privaten Sektor unterschätzt
Mit Bezug auf die wirtschaftliche Freiheit sind die Chinesen selbstbewusst: Mehrere Gesprächspartner meinten zu mir, wenn man den Grad der staatlichen Regulierung durch die EU vergleiche mit dem Grad der Regulierung im Guangdong-Gebiet, dann falle der Vergleich vermutlich zugunsten von Guangdong aus. Aber das wissen nur wenige informierte Insider, die beide Systems gut kennen. Die meisten Studenten, dies wurde in den Gesprächen klar, überschätzen den Grad der wirtschaftlichen Freiheit in Amerika und Europa ebenso, wie Amerikaner und Europäer den Staatseinfluss auf die chinesische Wirtschaft überschätzen. In einem Papier des World Economic Forum heißt es: “China’s private sector – which has been revving up since the global financial crisis – is now serving as the main driver of China’s economic growth. The combination of numbers 60/70/80/90 are frequently used to describe the private sector’s contribution to the Chinese economy: they contribute 60% of China’s GDP, and are responsible for 70% of innovation, 80% of urban employment and provide 90% of new jobs. Private wealth is also responsible for 70% of investment and 90% of exports.” Wenn Politiker im Westen das Beispiel von Chinas Aufstieg als Argument dafür anführen, dass man auch in den USA oder Europa stärker auf den Staat setzen solle, dann ist das absurd.