Tichys Einblick
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Eine Freiheitsrede für die Ewigkeit

Rowan Atkinson ist nicht nur „Mr. Bean“. Der britische Komiker hat vor seiner Schauspielkarriere auch ein Studium der Elektrotechnik an der Elite-Universität Oxford erfolgreich abgeschlossen. Und er ist seit vielen Jahren einer der glühendsten Verfechter der Rede- und Meinungsfreiheit auf der Insel.

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Die Regierung in London wollte im Jahr 2012 den Artikel 5 des „Gesetzes über öffentliche Ordnung“ reformieren, das heißt: Sie wollte den schon damals höchst umstrittenen Gummiparagraphen weiter verschärfen. Dagegen gab es im Mutterland der modernen Demokratie heftigen Widerstand, der damals zeitweise erfolgreich war (anders als heute, wo der neue Premierminister Keir Starmer von der Labour-Party im Hau-Ruck-Verfahren beispiellose Zensurmaßnahmen auf der Insel durchgepeitscht hat).

Zum Start einer öffentlichen Kampagne gegen die Reform von „Artikel 5“ hielt Atkinson eine Rede vor Abgeordneten des Parlaments. (Einen Mitschnitt gibt es hier.) Beobachter hielten den Vortrag schon damals für eine der besten Betrachtungen zur Rede- und Meinungsfreiheit in der langen britischen Geschichte. Auch heute, zwölf Jahre später, ist der Text beklemmend aktuell. TE dokumentiert den kompletten Wortlaut.

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Mein Ausgangspunkt bei der Betrachtung von Fragen zur freien Meinungsäußerung ist meine leidenschaftliche Überzeugung, dass das Zweitwertvollste im Leben das Recht ist, sich frei auszudrücken. Das Wertvollste im Leben ist meiner Meinung nach ein voller Magen, und das Drittwertvollste ist ein Dach über dem Kopf. Aber die freie Meinungsäußerung liegt für mich klar auf Platz zwei – knapp unter den Notwendigkeiten der Selbsterhaltung.

Mein ganzes Berufsleben über habe ich in diesem Land lang die freie Meinungsäußerung genossen und werde dies auch weiterhin tun. Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ich persönlich wegen irgendwelcher Gesetze zur Einschränkung der freien Meinungsäußerung verhaftet werde: Denn Personen mit einem hohen öffentlichen Profil wird zweifellos eine privilegierte Stellung zugestanden. Meine Sorgen gelten also weniger mir selbst als vielmehr denjenigen, die aufgrund ihres geringeren Bekanntheitsgrads angreifbarer sind: wie dem Mann, der in Oxford verhaftet wurde, weil er ein Polizeipferd „schwul“ genannt hat. Oder dem Teenager, der verhaftet wurde, weil er die Scientology-Kirche eine Sekte genannt hatte. Oder dem Cafébesitzer, der verhaftet wurde, weil er Bibelstellen auf einem Fernsehbildschirm gezeigt hatte.

Als ich von einigen dieser lächerlicheren Vergehen und Anklagen hörte, habe ich mich daran erinnert, dass ich schon einmal in einem künstlerischen Kontext hier gewesen bin: Vor einigen Jahren habe ich eine Sendung namens „Not the Nine O’Clock News“ („Nicht die Neun-Uhr-Nachrichten“, Red.) gemacht. Darin kam ein Sketch vor, in dem Griff Rhys-Jones den „Constable Savage“ spielte – einen offenkundig rassistischen Polizisten, dem ich als sein Stationsleiter eine Standpauke halte, weil er einen schwarzen Mann aufgrund einer ganzen Reihe lächerlicher, erfundener und alberner Anschuldigungen festgenommen hat. Die Anschuldigungen, aufgrund derer Constable Savage „Mr. Winston Kodogo aus der Mercer Road 55“ festnahm, waren diese:

• „Auf den Rissen im Bürgersteig laufen.“
• „In der Dunkelheit in einem grellen Hemd in einem Wohngebiet spazieren gehen.“
• Und eine meiner Lieblingsanschuldigungen: „Überall herumlaufen.“

Constable Savage verhaftete Mr. Kodogo außerdem wegen „Urinierens auf einer öffentlichen Toilette“ – und „weil er mich komisch ansah“.

Wer hätte gedacht, dass wir am Ende ein Gesetz bekommen würden, das es dem Leben erlaubt, die Kunst so genau zu imitieren.

Der Fall des schwulen Pferdes wurde fallengelassen, nachdem der verhaftete Mann sich weigerte, die Strafe zu bezahlen. Und der Fall von Scientology wurde irgendwann während des Gerichtsverfahrens ebenfalls fallengelassen. Ein Anhänger des neuen Gesetzes meinte dazu, das sei doch ein Beweis dafür, dass das Gesetz gut funktioniere. Doch dabei ignorierte er die Tatsache, dass der einzige Grund, warum diese Fälle fallengelassen wurden, die Aufmerksamkeit war, die sie schon erregt hatten.

Die Polizei spürte, dass sie kurz davor war, sich vor dem ganzen Land der Lächerlichkeit preiszugeben. Deshalb verfolgte sie die Angelegenheiten nicht weiter. Aber was ist mit den Tausenden anderen Fällen, die nicht im Licht der Öffentlichkeit standen? Die knapp noch nicht lächerlich genug waren, um die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen? Selbst in den fallengelassenen Fällen wurden zunächst Menschen verhaftet, verhört und vor Gericht gestellt – und erst dann freigelassen.

Das ist kein Gesetz, das gut funktioniert. Das ist Zensur der schlimmsten und am meisten einschüchternden Art. Sie garantiert, wie Lord Dear (eine britische Polizisten-Legende und ein Mitglied des Oberhauses, Red.) sagt, eine „abschreckende Wirkung“ auf freie Meinungsäußerung und freien Protest.

Der „Gemeinsame Ausschuss für Menschenrechte“ unseres Parlaments hat diese ganze Angelegenheit sehr gut zusammengefasst: „Obwohl die Verhaftung eines Demonstranten wegen drohender oder beleidigender Sprache je nach den Umständen eine angemessene Reaktion sein kann, glauben wir nicht, dass Sprache oder Verhalten, das lediglich beleidigend ist, jemals auf diese Weise kriminalisiert werden sollten.“

Das eindeutige Problem mit dem Verbot von „Beleidigungen“ ist, dass zu viele Dinge als solche interpretiert werden können. Kritik wird von bestimmten Parteien leicht als Beleidigung ausgelegt. Spott wird leicht als Beleidigung ausgelegt. Sarkasmus, ungünstige Vergleiche, das bloße Darlegen eines alternativen Standpunkts zur Orthodoxie können als Beleidigung ausgelegt werden. Und weil so viele Dinge als Beleidigung interpretiert werden können, ist es kaum überraschend, dass auch so viele Dinge tatsächlich als Beleidigung interpretiert werden – wie die Beispiele zeigen, über die ich gerade gesprochen habe.

Obwohl das Gesetz, um das es hier geht, seit über 25 Jahren in Kraft ist, ist es doch bezeichnend für eine neue Kultur: Mehrere aufeinanderfolgende Regierungen haben sie angenommen – und in dem vernünftigen und gut gemeinten Bestreben, widerwärtige Elemente in der Gesellschaft einzudämmen, eine außerordentlich autoritäre Gesellschaft mit überbordender Kontrolle geschaffen hat.

Dies ist es, was man die neue Intoleranz nennen könnte: ein neues, intensives Verlangen, unangenehme Stimmen der Opposition zum Schweigen zu bringen.

„Ich bin nicht intolerant“, sagen viele Menschen. Viele bedächtig und leise sprechende, hochgebildete, liberal denkende Leute sagen: „Ich bin nur intolerant gegenüber Intoleranz.“ Und die Menschen neigen dann dazu, zustimmend zu nicken und zu sagen: „Oh, weise Worte, weise Worte.“ Aber wenn man länger als fünf Sekunden über diese angeblich unwiderlegbare Aussage nachdenkt, dann erkennt man, dass hier lediglich eine Art von Intoleranz durch eine andere Art von Intoleranz ersetzt wird. Das ist für mich kein Fortschritt, überhaupt keiner.

Vorurteilen, Ungerechtigkeiten oder Ressentiments begegnet man nicht durch Verhaftungen. Man begegnet ihnen, indem man die Themen anspricht, diskutiert und sich um die Probleme kümmert – vorzugsweise außerhalb des Gerichtssaals. Wenn man die Widerstandskraft der Gesellschaft gegen beleidigende oder anstößige Äußerungen erhöhen will, ist es meiner Meinung der beste Weg, viel mehr davon zuzulassen. Wie bei Kinderkrankheiten kann man sich besser gegen die Keime wehren, denen man ausgesetzt war. Wir müssen immun gegen Beleidigungen werden, damit wir uns mit den Problemen auseinandersetzen können, die zu vollkommen berechtigter Kritik führen können.

Unsere Priorität sollte es sein, uns mit der Botschaft auseinanderzusetzen, nicht mit dem Überbringer. Wie Präsident Obama erst vor etwa einem Monat in einer Rede vor den Vereinten Nationen sagte: „allgemein gelobte Bemühungen, die Redefreiheit einzuschränken, können zu einem Mittel werden, um Kritiker zum Schweigen zu bringen oder Minderheiten zu unterdrücken. Die stärkste Waffe gegen Hassreden ist nicht Repression, sondern mehr Redefreiheit.“

Und das ist der Kern meiner These: mehr Redefreiheit. Wenn wir eine robuste Gesellschaft wollen, brauchen wir einen robusteren Dialog, und dazu muss das Recht gehören, zu beleidigen oder zu kränken. Denn wie Lord Dear sagt: Die Freiheit, niemanden zu beleidigen, ist gar keine Freiheit.

Die Aufhebung dieses Wortes in dieser Klausel („Beleidigung“ in Artikel 5) ist nur ein kleiner Schritt. Aber ich hoffe, dass es ein entscheidender Schritt in einem längerfristigen Projekt sein kann, um eine schleichend fortschreitende Kultur der Zensur zu stoppen und langsam zurückzudrängen. Es ist ein kleiner Erfolg im Kampf gegen das, was Sir Salman Rushdie als „Empörungsindustrie“ bezeichnet: selbsternannte Schiedsrichter des öffentlichen Wohls, die die von den Medien geschürte Empörung weiter schüren und die die Polizei dann unter enormen Handlungsdruck setzen.

Eine Zeitung ruft bei Scotland Yard an: „Jemand hat auf Twitter etwas leicht Beleidigendes über jemanden gesagt, den wir für ein nationales Kulturgut halten. Was werden Sie dagegen tun?“ Die Polizei gerät prompt in Panik und greift nach dem unpassendsten Rettungsanker von allen, nämlich nach Artikel 5 des „Gesetzes über öffentliche Ordnung“ – dem Gesetz, wonach die Polizei jeden verhaften kann, der etwas sagt, was von anderen als beleidigend aufgefasst werden könnte.

Und dabei braucht es noch nicht einmal ein echtes Opfer. Die Polizei muss nur zu dem Schluss kommen, dass sich jemand beleidigt gefühlt haben könnte, wenn er gehört oder gelesen hätte, was irgendwo gesagt oder geschrieben wurde. Es ist der lächerlichste Freibrief, den man sich vorstellen kann.

Das, was Twitter- und Facebook-Kommentare auslösen, wirft einige faszinierende Fragen zur freien Meinungsäußerung auf, mit denen wir uns noch nicht wirklich auseinandergesetzt haben. Erstens: dass wir alle Verantwortung für das übernehmen müssen, was wir sagen – was eine ziemlich gute Lektion ist. Aber zweitens haben wir auch gelernt, wie entsetzlich empfindlich und intolerant die Gesellschaft selbst gegenüber den mildesten negativen Kommentaren geworden ist.

Ein Gesetz sollte diese neue Intoleranz nicht unterstützen und begünstigen. Die freie Meinungsäußerung kann nur leiden, wenn ein Gesetz uns daran hindert, mit ihren Konsequenzen umzugehen. Ich biete Ihnen meine uneingeschränkte Unterstützung für die Kampagne zur Reform von Artikel 5 an. Vielen Dank.

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