Tichys Einblick
Noch ist die Freiheit nicht verloren

Rebellion in Polen und Ungarn ein Segen für die EU

Polen und Ungarn werden vorerst keine Gelder aus dem Corona-Recovery-Fonds der EU erhalten. Sie werden dafür bestraft, dass sie die Rechtsordnung der EU sowie Deutschland und Frankreich in Frage stellen. Diese Konfrontation ist ein Segen, schreibt Jelte Wiersma.

IMAGO / ZUMA Press

Diejenigen, die die Europäische Union lieben, sollten Jaroslaw Kaczynski (PiS) und Viktor Orbán (Fidesz) dankbar sein. Der De-facto-Chef Polens und der Premierminister Ungarns argumentieren, dass die Macht des Gerichtshofs der EU begrenzt sei. Sie argumentieren auch, dass die Macht von Deutschland und Frankreich, den entscheidenden Mächten in der EU, und ihrer Durchführungsorganisation, der Europäischen Kommission, begrenzt ist. Diese Haltung von Kaczynski und Orbán hat sie in Konflikt mit dem Gerichtshofs der EU sowie mit Deutschland, Frankreich und der Europäischen Kommission gebracht. Der Konflikt ist ein Segen. Denn die EU kann nur fortbestehen, wenn der Macht des Gerichtshofs und Deutschlands, Frankreichs und der Kommission Grenzen gesetzt werden. Das Vereinigte Königreich war regelmäßig mit diesem Problem konfrontiert. Letztendlich hat sie sich aber immer den Urteilen des Gerichtshofs unterworfen. Sie kam auch den deutsch-französischen Wünschen nach oder hielt sich zurück, indem sie beispielsweise dem Euro und Schengen fernblieb. Am Ende haben sie sich für den Austritt aus der EU entschieden.

Kaczynski und Orbán gehen teilweise einen anderen Weg. Sie wollen Mitglied der EU bleiben, sich aber nicht mit der Macht des Gerichtshofs, der Kommission und Deutschlands und Frankreichs abfinden. Anders als das Vereinigte Königreich ignorieren sie Gerichtsurteile und deutsch-französische Vorschriften.

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Dies begann im Jahr 2015. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) wollte die Masse der nach Deutschland einwandernden Ausländer auf alle Schengen-Staaten verteilen. Genau wie in Deutschland selbst sind die Ausländer auf die Bundesländer verteilt. Also ein deutsches Modell für Europa. Polen und Ungarn, unter anderem, waren dagegen. Sie wollten die Ausländer nicht, und die Ausländer wollten auch nicht in diese Länder gehen. Doch Merkel stand innenpolitisch so unter Druck, dass sie sich beim EU-Rat der Regierungschefs im Dezember 2015 in Brüssel durchsetzte. Normalerweise wird der Konsens in Brüssel gesucht. Damit die Regierungschefs erhobenen Hauptes Brüssel verlassen und den in ihren Parlamenten erzielten Kompromiss verteidigen können. Diesmal nicht. Merkel, unterstützt vom französischen Präsidenten Francois Hollande (PS), ließ im Rat darüber abstimmen. In vielen Fällen haben die Regierungschefs ein Vetorecht. Diesmal wurde über die Verteilung der Einwanderer nach der Methode der qualifizierten Mehrheit abgestimmt. Das war eigentlich nicht gut, denn es handelte sich um eine neue Politik, die nur durch Einstimmigkeit hätte umgesetzt werden dürfen. Aber Regeln waren noch nie ein Hindernis, wenn es um die Umsetzung deutsch-französischer Wünsche ging.
Endlich ein „Nein

Kaczynski und Orbán sowie die Regierungschefs der Tschechischen Republik und der Slowakei sagten Nein. Sie hatten nicht vor, die rechtsverbindliche Entscheidung des Rates umzusetzen. Das war ein Segen. Es zeugt von mangelnder Sensibilität Deutschlands und Frankreichs, Ländern – insbesondere Ländern, die so lange Spielball von Großmächten waren – etwas so Sensibles wie die ethnische, religiöse und kulturelle Zusammensetzung einer Bevölkerung aufzuzwingen. Der ehemalige britische Botschafter in Bonn und Berlin, Paul Lever, drückte es so aus: „Tief im Inneren denken die Deutschen, dass Osteuropa die Klappe halten und dankbar sein sollte“.

Seit diesem Wendepunkt im Jahr 2015 sind zwei Bewegungen zu beobachten. Einerseits distanzieren sich vor allem Polen und Ungarn zunehmend von den sogenannten liberal-demokratischen Werten. Die öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sind zu Sprachrohren der Regierungen geworden, die kommerzielle Presse wird in ihrer Arbeit behindert und es werden „Reformen“ des Wahl- und Rechtssystems durchgeführt, die die Regierungsparteien begünstigen. Orbán nennt dies illiberale Demokratie. Andererseits werden die Angriffe der Europäischen Kommission, des Europäischen Parlaments und des Gerichtshofs der EU immer schärfer. Ein Verfahren nach dem anderen wird gegen Polen und Ungarn angestrengt, und jedes Mal stellt der Gerichtshof fest, dass die dortigen Regierungen unrechtmäßig handeln.

Stock gegen ungezogene Kinder

Aber die EU ist kaum in der Lage, diese Aussagen zu belegen. Länder zu suspendieren und ihnen das Stimmrecht zu entziehen, ist nur möglich, wenn dies von den Regierungschefs einstimmig beschlossen wird. Da sich die osteuropäischen Länder gegenseitig unterstützen, passiert nichts.

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Deshalb hat der EU-Rat der Regierungschefs die Daumenschrauben angezogen. Der Rat beschloss im Sommer 2020 die Einrichtung eines so genannten Corona-Recovery-Fonds. Die 750 Milliarden Euro aus diesem Fonds werden größtenteils von den nordwesteuropäischen Ländern nach Süd- und Osteuropa fließen. Vor allem Frankreich, die Niederlande und die skandinavischen Länder bestanden darauf, dass die Gelder nur dann an Länder vergeben werden konnten, wenn sie ihre Wirtschaft reformierten und das europäische Recht einhielten. Dies gab der Europäischen Kommission als Verteiler der Gelder und dem Gerichtshofs der EU als Hüter des  EU-Rechts einen großen Knüppel in die Hand, mit dem sie unartige Kinder schlagen konnten.

Das für Südeuropa vorgesehene Geld aus dem Corona Recovery Fund wurde von der Kommission überwiesen, ohne dass Reformen durchgeführt oder glaubwürdige Pläne vorgelegt wurden. Polen und Ungarn können mit einer weniger nachsichtigen Behandlung rechnen. Die Kommission behält die 7,2 Mrd. EUR für Ungarn und die 23,9 Mrd. EUR für Polen vorerst auf ihrem eigenen Bankkonto. Ungarn wurde unter anderem dafür kritisiert, dass es traditionelle heterosexuelle Beziehungen fördert und andere Beziehungen und Transgender-Personen beispielsweise aus den Schulbüchern ausschließt. Das würde den Menschenrechten und den europäischen Werten widersprechen. Polen muss auf das Geld warten, weil es die Richter einem Ausschuss unterstellt hat, der politisch ernannt wird. Dies würde gegen die Unabhängigkeit der Justiz verstoßen.

Beide Themen sind nicht nur für Polen und Ungarn wichtig, sondern auch für den Rest der Europäischen Union.

Doppelte Standards

Die ungarische Angelegenheit wirft, gelinde gesagt, Fragen auf. Die Orbán-Regierung will verhindern, dass Kinder – bis zum Alter von 18 Jahren – unangemeldet mit Homosexualität, homosexuellen Paaren mit Kindern und Transgender-Personen in Kontakt kommen. Haftungsausschlüsse auf Büchern und Videos sollten dies gewährleisten. Es kann sein, dass Schulen dieses Material gar nicht anbieten. Verstößt dies gegen europäische Werte? Das ist auf jeden Fall Stoff für Diskussionen. Sicher ist, dass es in anderen EU-Ländern, die vom Staat subventioniert werden, viele Schulen gibt, in denen solches Material ebenfalls nicht angeboten wird. Es gibt auch viele Apps, die Eltern z. B. auf Tablets installieren können, um Kinder vor solchem Material zu schützen. Will die EU vorschreiben, was gelehrt werden darf und was nicht? Werden solche Apps auch verboten werden? Und wenn sich die Kommission an die Regierung Orbán wendet, sollten dann nicht auch andere Regierungen angesprochen und gezwungen werden, den Schulen, die dieses Material nicht vorweisen können, die Subventionen zu entziehen? Dies würde in Frankreich und Italien mit ihren vielen subventionierten römisch-katholischen Schulen einen Aufschrei auslösen. Es scheint, dass hier mit zweierlei Maß gemessen wird.

Kulturkrieg

Angesichts der Erfahrungen in den Vereinigten Staaten ist auch eine gewisse Vorsicht geboten. 1973 entschied der Oberste Gerichtshof in dem berühmten Fall Roe gegen Wade, dass staatliche Gesetze, die Abtreibungen verbieten, verfassungswidrig sind, weil die Bürger ein Recht auf Privatsphäre haben. Dieses Jonglieren mit der Verfassung erwies sich als Startschuss für einen anhaltenden Kulturkampf. Die Bürger einiger Staaten sind mehrheitlich gegen Abtreibung, die anderer Staaten mehrheitlich dafür. Es war auch die Praxis, dass Abtreibung in einigen Staaten legal und in anderen illegal war. Diese Vielfalt wurde durch Roe versus Wade zunichte gemacht.

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Gerade in Europa, das im Gegensatz zu Amerika nicht „Eine Nation unter Gott“ ist, sollte man sich noch mehr davor hüten, nationale Meinungen zu sensiblen Themen wie Abtreibung, Homosexualität usw. in erster Linie den Ländern selbst zu überlassen. Es ist möglich, auf EU-Ebene einen Kompromiss über Produktnormen zu erzielen. Bei Themen wie beispielsweise Homosexualität ist dies jedoch nicht so einfach möglich. So hat der Gerichtshofs der EU bereits alle EU-Länder gezwungen, die Homo-Ehe zu akzeptieren. Die EU-Länder müssen die gleichgeschlechtliche Ehe nicht einführen, aber sie sind verpflichtet, gleichgeschlechtlichen Paaren, die in einem anderen Land verheiratet sind, alle Rechte zu gewähren, die heterosexuelle Paare genießen. Wenn zum Beispiel ein rumänisches homosexuelles Paar in Belgien heiratet, muss Rumänien – das die gleichgeschlechtliche Ehe nicht anerkennt – die Ehe anerkennen. Auf diese Weise hat der Gerichtshof die Homo-Ehe in Rumänien durch die Hintertür eingeführt. Es sind Urteile wie dieses, die Orbán dazu gebracht haben, zurückzuschlagen. Das Gefühl vieler Ungarn, kulturell angegriffen zu werden, hat eine Abwehrreaktion ausgelöst. Europa ist sehr vielfältig, sogar noch vielfältiger als die Vereinigten Staaten. Wenn dem kein Raum gegeben wird, kann es nicht nur bei einem Brexit bleiben.
Gerichtshof

Mindestens genauso spannend ist die polnische Ausgabe. Der Gerichtshofs der EU hat entschieden, dass die Einsetzung des politisch motivierten Ausschusses zur Überwachung der Richter rechtswidrig ist. Die polnische Regierung hat daraufhin das polnische Verfassungsgericht gefragt, ob dies der Fall ist. Das polnische Gericht entschied, dass die polnische Verfassung in einigen Punkten Vorrang vor dem Europäischen Vertrag hat, auf den sich der Gerichtshof stützt. Dies ist eine grundlegende Frage. Die EU ist ein juristisches Konstrukt, in dem der Gerichtshof letztlich das höchste Gericht in den Bereichen ist, die im Europäischen Vertrag festgelegt sind. Die nationalen Richter sind Teil der Rechtspyramide, an deren Spitze der Gerichtshof in Luxemburg steht. In Ländern wie den Niederlanden, in denen Richter nicht gegen die Verfassung prüfen dürfen, führt dies nicht zu einem Konflikt. In Ländern, in denen dies erlaubt ist, wie z. B. in Deutschland und Polen, ist die Situation jedoch anders. Was wäre, wenn der Gerichtshofs der EU mit dem Europäischen Vertrag in der Hand ein Urteil fällen würde, das gegen die Verfassung Deutschlands oder Polens verstößt?

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Es wird daher oft gesagt, dass die EU-Integration eines Tages gegen die rechtliche Mauer der nationalen Verfassungen und Verfassungsgerichte anlaufen wird. Ohne die Anpassung der nationalen Verfassungen wird eine weitere EU-Integration letztlich unmöglich sein. Das deutsche Bundesverfassungsgericht deutet bereits vorsichtig einen Konflikt mit dem Gerichtshofs der EU an. Es hat in diesem Jahr entschieden, dass die deutsche Zentralbank dem Ankauf von Staatsanleihen durch die Europäische Zentralbank nicht einfach zustimmen darf. Die deutsche Zentralbank muss dem deutschen Parlament vor dem Bundesverfassungsgericht weitere Erläuterungen geben. Der Gerichtshof in Luxemburg tat daraufhin etwas Unerhörtes. Richter äußern sich nur durch Urteile, aber dieses Mal hat der Gerichtshof eine Mitteilung veröffentlicht, in der er betont, dass nur er der höchste Richter ist. Das Bundesverfassungsgericht musste sozusagen den Mund halten.
Van Gend & Loos

Dies ist eine grundlegende Frage. In einer Demokratie sollte die Macht an mehreren Stellen liegen. Aber der Gerichtshof ist allmächtig, wenn er es will. Sie kann nicht nur theoretisch tun, was sie will, sie tut es manchmal auch. In den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Inkrafttreten der Römischen Verträge (1957) fällte der Gerichtshof ein Urteil nach dem anderen, um die europäische Integration voranzutreiben. Ohne die Zustimmung der nationalen Regierungen und der nationalen Parlamente. Die beiden bekanntesten Urteile stammen aus den Jahren 1963 und 1964. Im Jahr 1963 entschied der Gerichtshof, dass das niederländische Transportunternehmen Van Gend & Loos keine Einfuhrabgaben an die Bundesrepublik Deutschland für die Einfuhr von Polymerharz zahlen musste. Aus den Römischen Verträgen sei abzuleiten, dass die Staaten ihre Souveränität eingeschränkt und eine neue, europäische Rechtsordnung geschaffen hätten, so der Gerichtshof. Dies stehe zwar nicht im Vertrag, entspreche aber dessen Geist, so der Gerichtshof. Niemand konnte den Hof zur Rechenschaft ziehen. Ein Jahr später erging ein Urteil über die Verstaatlichung der italienischen Elektrizitätsversorgung. Sowohl das italienische Verfassungsgericht als auch der Generalanwalt des Gerichtshofs haben entschieden, dass der Vertrag von Rom, auf den sich die Juristen berufen, keine Rechtskraft besitzt. Der Gerichtshof entschied anders und stellte sich über die nationalen Verfassungsgerichte. Auch wenn der Vertrag von Rom dies nicht vorsieht. In den darauffolgenden Jahren wurden Hunderte von Urteilen erlassen, die eine stärkere europäische Integration vorschrieben, ohne dass sich die nationalen Regierungen und Parlamente dazu geäußert hätten. So gab der Gerichtshofs der EU der Europäischen Zentralbank nach einer Klage deutscher Wissenschaftler und anderer besorgter Bürger grünes Licht für den massiven Aufkauf von Staats- und Unternehmensanleihen, um den Euro zu retten. Diese Erlaubnis war seltsam, da die Europäische Zentralbank noch nie ein solches Mandat von den nationalen Regierungen und Parlamenten erhalten hatte. Die intelligenteren Brexit-Befürworter wiesen daher zu Recht auf die unkontrollierte Macht hin, die sich das Gericht angeeignet hatte.

Amerikas Beispiel

Das Vereinigte Königreich ist leider vor einer Konfrontation davongelaufen, Polen vorerst nicht. Es gibt eine gewisse moralische Entrüstung über Kaczynski und seine Regierung. Es wird behauptet, sie würden die europäische Rechtsordnung untergraben. Aber die Konfrontation zwischen den demokratischen Regierungen und den nationalen Verfassungsgerichten und dem Gerichtshof war unvermeidlich und notwendig. Die Art und Weise, in der Kaczynski versucht, die polnische Justiz zu politisieren, mag nicht angenehm sein, aber eine grundlegende Debatte über die Befugnisse des Gerichtshofs ist notwendig. In diesem Fall muss der Gerichtshof scharf abgegrenzt werden. Übrigens sind auch in vielen anderen Ländern die höchsten Gerichte politisiert. In Deutschland, Frankreich, Belgien und den Niederlanden werden die obersten Gerichte durch politische Prozesse ernannt, und sie werden nur aus „rechten“, oft linksliberalen politischen Kreisen rekrutiert. Den Gerichtshofs der EU hören wir in dieser Frage nicht. In den Vereinigten Staaten werden die Richter des Obersten Gerichtshofs sogar ausdrücklich durch ein politisches Verfahren ernannt – Ernennung durch den Präsidenten, Zustimmung durch den Senat.

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Diese amerikanische Praxis wird in Europa oft belächelt, könnte aber als Beispiel für den Gerichtshofs der EU dienen. In Amerika neigen konservative Richter oft dazu, die Verfassung eng auszulegen und den Staaten viel Spielraum zu lassen, während progressive Richter dazu neigen, die Verfassung weiter auszulegen und Urteile zu erlassen, die auf nationaler Ebene gültig sind. Es handelt sich um eine juristische Debatte zwischen Zentralisten und Föderalisten darüber, welchen Einfluss die Wähler mit ihren Stimmen für Präsident und Senat haben. Dabei haben kleine Staaten mit manchmal nur einer halben Million Einwohnern genauso viele Senatoren wie große Staaten mit fast 40 Millionen Einwohnern.
Macht kaufen

Die Tatsache, dass die Europäische Kommission mit Unterstützung Deutschlands, Frankreichs und des übrigen Westeuropas den Corona-Wiederauffüllungsfonds nutzt, um Polen und Ungarn auf die von ihnen gewünschte Linie zu zwingen, hat eine dritte Schwachstelle. Sie beruht auf dem Grundsatz „Wer zahlt, bestimmt die Musik“. Mit anderen Worten: Die Reichsten haben das Sagen. Es ist zum Beispiel undenkbar, dass die Europäische Kommission Deutschland und andere Länder, in denen Abtreibung erlaubt ist, wegen Verletzung der Rechte des ungeborenen Kindes vor den Gerichtshofs der EU bringt. Und dass die Kommission EU-Gelder aus diesen Ländern zurückhalten würde. Oder dass Länder, in denen Euthanasie erlaubt ist, wie z. B. die Niederlande und Belgien, genauso behandelt werden sollten. Dies wirft ein  Schlaglicht auf ein Problem, das schon seit Jahrzehnten besteht. Die neun Länder, die Nettozahler in der EU sind, glauben, dass sie entscheiden können. So haben beispielsweise Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und der französische Staatspräsident Jacques Chirac (UMP) im Jahr 2003 die Euro-Regeln ignoriert. Die Kommission und der Gerichtshof haben nichts unternommen. Die kleineren Länder waren nicht vor der Willkür der Großen geschützt wie die kleineren Staaten in Amerika.

Mit einem Gerichtshof, der macht, was er will, und sich über die nationalen Verfassungen hinwegsetzt, und mit Deutschland und Frankreich, die glauben, dass ihr Wille Gesetz ist, und die kleinen Länder, die nicht auf sie hören wollen, das zu spüren bekommen, ist die Realität in der EU nicht sehr schön. Ob man Kaczynskis oder Orbáns innenpolitische Praktiken nun verabscheut oder nicht, sie haben Recht, sich mit dieser EU-Realität auseinanderzusetzen. Diejenigen, die die EU lieben, sollten sich ihre Beschwerden besser anhören. Denn die europäische Geschichte lehrt uns: Wenn die Machthaber den kleinen und minderheitlichen Stimmen in ihrem Reich keinen Raum und keine faire Behandlung geben, wird ihr Reich untergehen.

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