Tichys Einblick
Merkron ante portas

Quo vadis France?

Der österreichische Nationalökonom Eugen von Böhm-Bawerk, sagte vor 100 Jahren, dass politische Macht eine Zeit lang bestimmt, letztlich aber das ökonomische Gesetz stärker ist, dass politisch nicht richtig sein kann, was ökonomisch falsch ist.

© Ludovic Marin/AFP/Getty Images

Der ökonomische Fachbeobachter reibt sich die Augen vor Verwunderung. Nach der Präsidentschaftswahl soll Frankreich, der kranke Mann Europas, der Hoffnungsträger für die Erneuerung Europas werden, wie vielfach der Erfolg von Emmanuel Macron verstanden und gefeiert wird. Wunschdenken und Realität liefen selten so weit auseinander wie derzeit.

Als erstes ist davor zu warnen, den Wahlerfolg von Macron zum Nennwert zu nehmen. Noch im ersten Wahlgang am 23. April stimmten lediglich 24 % der Wahlberechtigten für ihn, weniger als ein Viertel. Dagegen hatten 45 % aller Wähler links- und rechtspopulistische Kandidaten gewählt. Bei der entscheidenden Stichwahl am 7. Mai enthielt sich ein Drittel aller Wahlberechtigten der Stimme. Die eindrucksvolle Zustimmung von 65 % der Wähler kann Macron kaum auf seine Fahnen schreiben. Wie in Frankreich nicht unüblich, bestand das Motiv der Wähler eher darin, den politischen Gegner zu verhüten, in diesem Fall Marine Le Pen, die Parteichefin des Front National. Auch bei der Parlamentswahl lohnt es sich, einen zweiten Blick auf das Ergebnis zu werfen. Die satte Mehrheit von rd. zwei Dritteln der Abgeordneten verdankt er dem in Frankreich praktizierten Mehrheitswahlrecht – von den Wahlberechtigten insgesamt hatten allerdings nur 17 % den Kandidaten seiner Partei „République en Marche“ ihre Zustimmung gegeben. Ein Vertrauensvorschuss sieht anders aus. Inzwischen ist seine Popularität auf etwa 36 % eingebrochen.

Helds Ausblick 10-2017
Das Phänomen Macron
Ohne Koalitionsregierung und mit komfortabler Parlamentsmehrheit hat der Präsident alle Zügel in der Hand, die für Frankreich notwendigen Reformen entschlossen anzupacken. Bei der desolaten Wirtschaftslage Frankreichs erfordert der Reformbedarf in der Tat eine leibhaftige Herkulesarbeit. Frankreich bildet bei fast allen Wirtschaftsindikatoren das Schlusslicht in der Eurozone und in der EU. Dies gilt insbesondere für den überdimensionierten öffentlichen Sektor, der 57 % des BIP absorbiert (in Deutschland 44 %). Einige Kommentatoren halten Frankreich für das letzte sozialistische Land nach Kuba und Nordkorea. Trotz Stabilitätspakt überschreitet das Haushaltsdefizit seit fast 10 Jahren mit über 3 % des BIP den Grenzwert in der Währungsunion und mit einem in der Eurozone fast einmaligen Primärdefizit im Staatshaushalt können die Staatsausgaben ( ohne Zinsendienst) nur durch erneute Verschuldung finanziert werden, im Privatrecht ein Fall für den Insolvenzverwalter. Die Staatsschuld steuert unaufhaltsam auf 100 % des BIP zu, in Deutschland ist sie auf 68 % zurückgegangen. Auch die Zinseinsparungen aufgrund der expansiven Geldpolitik der EZB haben sich nicht entlastend ausgewirkt wie in Deutschland. Eine schwarze Null ist in Frankreich undenkbar.

Die Leistungsbilanz weist permanent Defizite auf und die Arbeitslosenzahl erreicht 10 %, bei den Jugendlichen sogar 25 %. Die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie ist seit 2000, dem Jahr der Einführung der 35-Stunden-Woche (ohne Lohnausgleich) auf dem absteigenden Ast und nimmt im weltweiten Rahmen nur noch einen Mittelplatz ein. Der Anteil der Industrie am BIP ist inzwischen auf 11 % gesunken (in Deutschland 25 %). Frankreich ist kein Industrieland mehr. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Sie stellt kein feindliches „french bashing“, sondern die nackten Fakten dar. Eine Reaktion der Finanzmärkte in Form steigender Risikoprämien bzw. Zinssätze ist bisher ausgeblieben. Das abenteuerliche Ankaufsprogramm von Staatsanleihen durch die EZB hat das Risiko eines Staatsbankrotts und damit den Korrekturmechanismus des Marktes gegen unsolide Politiken ausgeschaltet. Die EZB hat die Eurozone vor dem Zusammenbruch bewahrt, eine Aufgabe, die ihr nie übertragen wurde.

Der seit Jahrzehnten aufgetürmte Reformstau soll nun endlich vom neuen Präsidenten und der neuen Regierung aufgelöst werden. Das Programm Macrons ist unpopulär und hat bereits heftigen Widerstand ausgelöst. Bereits alle seine Vorgänger und auch er selber als Wirtschaftsminister unter Hollande haben erleben müssen, dass Frankreich nicht reformmüde, sondern reformunfähig ist.

Kein Weg zur „Grande Nation“
Frankreich: Die Illusion nationaler Größe
Zur Reform der französischen Wirtschaft will Macron an zahlreichen Fronten kämpfen. Zunächst sollen zur Erfüllung der Auflagen des Stabilitätspaktes in den nächsten fünf Jahren 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden, eine Marginalie bei einem Anteil der Staatsbediensteten an der Gesamtzahl der Erwerbstätigen von 25 %, nach Dänemark der höchste Anteil in der EU. Insgesamt sind Ausgabenkürzungen von 60 Milliarden Euro vorgesehen bei Gesamtausgaben von 1.200 Milliarden Euro. Gleichzeitig soll die in Frankreich bestehende Vermögenssteuer nur noch auf Immobilienbesitz angewandt werden, die Kapitalgewinnsteuer auf pauschal 30 % und die Körperschaftsteuer von derzeit 35 % in den nächsten fünf Jahren auf 25 % gesenkt werden.

Zum Umbau der französischen Wirtschaft sollen vier Baustellen eröffnet werden. Priorität genießt die Arbeitsmarktreform. Über die Arbeitszeit sollen die Sozialpartner künftig eigenständig verhandeln können, der Kündigungsschutz soll gelockert und Abfindungen bei Kündigungen gedeckelt werden, allerdings nur in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten. Das Paket soll in Kürze im Wege einer Verordnung und nicht als Gesetz durchgesetzt werden. Weitere Baustellen sind die Arbeitslosenversicherung, die berufliche Bildung und eine Steuerreform, alles Maßnahmen, die ein Gesamtkonzept nicht erkennen lassen. Ein Paket wie die Hartz IV – Reform à la Schröder steht nicht auf der Tagesordnung. Ein Reformprogramm aus einem Guss sieht anders aus.

In Westeuropa nichts Neues
Macron und Merkel
Die bestehenden Schieflagen sind dabei nicht nur Ergebnis einer erfolglosen Stabilitätspolitik, sondern auch historisch bedingt. Die zentralistische Monarchie hatte in Frankreich ein stabiles nationales Gebilde geschaffen und die Außengrenzen immer weiter verschoben. In dem großen Wirtschaftsraum wurden die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungskompetenzen straff zentralisiert, die Wirtschaftspolitik war durch Interventionismus und Dirigismus gekennzeichnet. Der Merkantilismus bzw. Colbertismus als Wirtschaftsmodell hatte sich u.a. die Förderung der gewerblichen Wirtschaft und die Schaffung großer staatlicher Manufakturen und einer elitären Berufsausbildung auf die Fahnen geschrieben. Greifbarer Ausfluss dieser Rahmensetzung sind heute u.a. die zahlreichen staatlichen Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen wie die antiliberale Arbeitsmarktpolitik, die gesetzliche Festlegung der Arbeitszeit, die den Bedürfnissen der Industrie nicht mehr entsprechende Berufsausbildung sowie die aktive Industriepolitik.

Ganz anders im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, einem nur lose integrierten Personen-, Rechts- und Leistungsverbund mit dem deutschen König bzw. Kaiser als Oberhaupt, das bis zu seiner Auflösung in 1806 aus mehr 300 souveränen Staaten bzw. Stattstaaten bestand. Diese Kleinstaaterei trieb die Industrie dieser Länder, häufig mittelständische Betriebe, in die ausländischen Absatzmärkte, d.h. in die Exportwirtschaft zur Erzielung einer produktiven Betriebsgröße und in eine praxisorientierte Berufsausbildung. Das Erbe dieser Entwicklung sind u.a. zahllose klein- und mittelständische Betriebe bzw. der Mittelstand, das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft, mit klassischer Exportorientierung und einem dualen System der Berufsausbildung bei geringer Ingerenz des Staates in die Wirtschaft, alles Dinge, welche die wirtschaftliche deutsche Dominanz ausmachen und die man im zentralistischen Frankreich vergeblich sucht. Marktwirtschaft ist in Frankreich immer noch ein Fremdwort.
Gemessen an dem historischen Erbe und der heutigen Ausgangslage erscheint das Reformprogramm Macrons eher unterdimensioniert. An den neuralgischen Stellschrauben des französischen Wirtschaftssystems soll offenbar nicht gedreht werden. Sakrosankt bleiben weiterhin die 35-Stunden-Woche, der Mindestlohn, das Renteneintrittsalter mit 63 Jahren, der Kündigungsschutz sowie hohe Sozialleistungen.

Zeitenwende
Macron, Kurz und Co. – die neuen Napoleoniden?
Vergleichsweise konkret sind die Vorstellungen Macrons zur Reform der Eurozone, die einen neuen institutionellen Rahmen schaffen sollen. Die Währungsunion soll so einen eigenen Haushalt erhalten mit eigenen Einnahmen, einem eigenen Parlament und einem eigenen Finanzminister mit einem Investitionsprogramm sowie einer gemeinsamen Kreditaufnahme und Haftung durch die Euroländer, wie sie de facto heute bereits mit dem ESM besteht. Ein Rückgriffsrecht des Euro-Finanzministers auf die nationalen Haushaltspolitiken wird von Macron strikt abgelehnt. Die nationale Souveränität muss für die „Grande Nation“ unangetastet bleiben. Die Vorstellungen Macrons decken sich im Übrigen nicht mit dem vom EU-Kommissionspräsidenten soeben präsentierten Vorschlägen für die Vertiefung der Währungsunion. Seine institutionellen Vorschläge wie Integration des ESM in den EU-Haushalt und der Eurozone in das Gemeinschaftsrecht sind wegen der intergouvermentalen Zusammenarbeit in der WWU und der damit verbundenen Statistenrolle der EU-Kommission in der Währungspolitik verständlich. Die Vorschläge zur Ausdehnung der Eurozone auf alle Mitgliedsländer sind reine Illusion. Rechtlich besteht bereits die Verpflichtung für alle EU-Staaten mit Ausnahme von Großbritannien und Dänemark, bei Erfüllung der Konvergenzkriterien der Währungsunion beizutreten. Neu ist jedoch der Gedanke Junckers, sog. Vorbeitrittsshilfen einzuführen, also Finanztransfers bereits vor Eintritt in die Eurozone vorzusehen.

Das Kardinalproblem der Eurozone bleibt jedoch bei allen diesen Vorschlägen ungelöst, wie die heute bereits bestehende Haftung der Eurogläubigerländer für die Schulden anderer Eurostaaten durch eine wirksame Kontrolle der Haushaltspolitik der Peripheriestaaten ergänzt werden kann. Die Lösung des Problems von Haftung und Kontrolle ist bei allen Reformideen nicht vorgesehen. Letztlich ist damit der Marsch von der Haftungsunion in die Transferunion intendiert.

Euro-Sozialismus
Macrons europäische Transferunion
Der einzig wirksame Mechanismus für eine effektive Kontrolle ist der Marktmechanismus, dem sich kein Staat entziehen kann, d.h. die Sanktionierung unsolider Politiken durch die Kapitalmärkte in Form höherer Risikoprämien bzw. Zinssätze, die bereits im Vertrag verankerte Stabilitätssicherung der WWU. Die traumatischen Erfahrungen Frankreichs im EWS bis 1998 lassen eine Rückkehr zu Maastricht 1.0 nicht zu, als unser Nachbar unter dem Druck der Finanzmärkte zu strikter Konvergenzpolitik mit Deutschland bzw. zu einem Vasallendasein mit Bundesbank und Bundesregierung gezwungen war, um Wechselkursabwertungen bzw. massive Verluste von Währungsreserven zu vermeiden. Die nunmehr mit viel Nachdruck präsentierten institutionellen Pläne werden dem Anspruch nicht gerecht, den Euro krisenfest zu machen und die EU zu reformieren. Es ist jedoch zu befürchten, dass die künftige Bundesregierung wie bereits in der Vergangenheit ihre Stabilitätsvorstellungen auf dem Altar der deutsch-französischen Freundschaft opfern wird.

An die Vokabel „Merkron“ wird man sich in Deutschland gewöhnen müssen. Damit wäre der Weg in die Transferunion zementiert. Wegen der anhaltenden Konvergenzdefizite Frankreichs mit Deutschland und den übrigen Stabilitätsländern in der Eurozone braucht unser Nachbar aber letztlich ein Ventil zum Ausgleich seiner Ungleichgewichte, d.h. einen flexiblen Wechselkurs gegenüber dieser Ländergruppe. Der ökonomische Fachbeobachter erinnert an die bereits vor 100 Jahren getroffene Feststellung des österreichischen Nationalökonomen Eugen von Böhm-Bawerk, wonach sich politische Macht eine Zeit lang halten kann, letztlich sich aber das ökonomische Gesetz durchsetzt oder populärer formuliert, dass politisch nicht richtig sein kann, was ökonomisch falsch ist.


Dr. Wolfgang Glomb ist Mitglied des Kuratoriums des liberalen Thinktanks Institut Thomas More in Paris. Er war bis zu seiner Pensionierung Ministerialrat im Bundesministerium der Finanzen und der seinerzeit zuständige Fachbeamte für die Konzeption und Einführung des Euros.

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