Der ökonomische Fachbeobachter reibt sich die Augen vor Verwunderung. Nach der Präsidentschaftswahl soll Frankreich, der kranke Mann Europas, der Hoffnungsträger für die Erneuerung Europas werden, wie vielfach der Erfolg von Emmanuel Macron verstanden und gefeiert wird. Wunschdenken und Realität liefen selten so weit auseinander wie derzeit.
Als erstes ist davor zu warnen, den Wahlerfolg von Macron zum Nennwert zu nehmen. Noch im ersten Wahlgang am 23. April stimmten lediglich 24 % der Wahlberechtigten für ihn, weniger als ein Viertel. Dagegen hatten 45 % aller Wähler links- und rechtspopulistische Kandidaten gewählt. Bei der entscheidenden Stichwahl am 7. Mai enthielt sich ein Drittel aller Wahlberechtigten der Stimme. Die eindrucksvolle Zustimmung von 65 % der Wähler kann Macron kaum auf seine Fahnen schreiben. Wie in Frankreich nicht unüblich, bestand das Motiv der Wähler eher darin, den politischen Gegner zu verhüten, in diesem Fall Marine Le Pen, die Parteichefin des Front National. Auch bei der Parlamentswahl lohnt es sich, einen zweiten Blick auf das Ergebnis zu werfen. Die satte Mehrheit von rd. zwei Dritteln der Abgeordneten verdankt er dem in Frankreich praktizierten Mehrheitswahlrecht – von den Wahlberechtigten insgesamt hatten allerdings nur 17 % den Kandidaten seiner Partei „République en Marche“ ihre Zustimmung gegeben. Ein Vertrauensvorschuss sieht anders aus. Inzwischen ist seine Popularität auf etwa 36 % eingebrochen.
Die Leistungsbilanz weist permanent Defizite auf und die Arbeitslosenzahl erreicht 10 %, bei den Jugendlichen sogar 25 %. Die Wettbewerbsfähigkeit der französischen Industrie ist seit 2000, dem Jahr der Einführung der 35-Stunden-Woche (ohne Lohnausgleich) auf dem absteigenden Ast und nimmt im weltweiten Rahmen nur noch einen Mittelplatz ein. Der Anteil der Industrie am BIP ist inzwischen auf 11 % gesunken (in Deutschland 25 %). Frankreich ist kein Industrieland mehr. Diese Liste ließe sich fortsetzen. Sie stellt kein feindliches „french bashing“, sondern die nackten Fakten dar. Eine Reaktion der Finanzmärkte in Form steigender Risikoprämien bzw. Zinssätze ist bisher ausgeblieben. Das abenteuerliche Ankaufsprogramm von Staatsanleihen durch die EZB hat das Risiko eines Staatsbankrotts und damit den Korrekturmechanismus des Marktes gegen unsolide Politiken ausgeschaltet. Die EZB hat die Eurozone vor dem Zusammenbruch bewahrt, eine Aufgabe, die ihr nie übertragen wurde.
Der seit Jahrzehnten aufgetürmte Reformstau soll nun endlich vom neuen Präsidenten und der neuen Regierung aufgelöst werden. Das Programm Macrons ist unpopulär und hat bereits heftigen Widerstand ausgelöst. Bereits alle seine Vorgänger und auch er selber als Wirtschaftsminister unter Hollande haben erleben müssen, dass Frankreich nicht reformmüde, sondern reformunfähig ist.
Zum Umbau der französischen Wirtschaft sollen vier Baustellen eröffnet werden. Priorität genießt die Arbeitsmarktreform. Über die Arbeitszeit sollen die Sozialpartner künftig eigenständig verhandeln können, der Kündigungsschutz soll gelockert und Abfindungen bei Kündigungen gedeckelt werden, allerdings nur in Betrieben mit weniger als 50 Beschäftigten. Das Paket soll in Kürze im Wege einer Verordnung und nicht als Gesetz durchgesetzt werden. Weitere Baustellen sind die Arbeitslosenversicherung, die berufliche Bildung und eine Steuerreform, alles Maßnahmen, die ein Gesamtkonzept nicht erkennen lassen. Ein Paket wie die Hartz IV – Reform à la Schröder steht nicht auf der Tagesordnung. Ein Reformprogramm aus einem Guss sieht anders aus.
Ganz anders im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, einem nur lose integrierten Personen-, Rechts- und Leistungsverbund mit dem deutschen König bzw. Kaiser als Oberhaupt, das bis zu seiner Auflösung in 1806 aus mehr 300 souveränen Staaten bzw. Stattstaaten bestand. Diese Kleinstaaterei trieb die Industrie dieser Länder, häufig mittelständische Betriebe, in die ausländischen Absatzmärkte, d.h. in die Exportwirtschaft zur Erzielung einer produktiven Betriebsgröße und in eine praxisorientierte Berufsausbildung. Das Erbe dieser Entwicklung sind u.a. zahllose klein- und mittelständische Betriebe bzw. der Mittelstand, das Rückgrat der deutschen Volkswirtschaft, mit klassischer Exportorientierung und einem dualen System der Berufsausbildung bei geringer Ingerenz des Staates in die Wirtschaft, alles Dinge, welche die wirtschaftliche deutsche Dominanz ausmachen und die man im zentralistischen Frankreich vergeblich sucht. Marktwirtschaft ist in Frankreich immer noch ein Fremdwort.
Gemessen an dem historischen Erbe und der heutigen Ausgangslage erscheint das Reformprogramm Macrons eher unterdimensioniert. An den neuralgischen Stellschrauben des französischen Wirtschaftssystems soll offenbar nicht gedreht werden. Sakrosankt bleiben weiterhin die 35-Stunden-Woche, der Mindestlohn, das Renteneintrittsalter mit 63 Jahren, der Kündigungsschutz sowie hohe Sozialleistungen.
Das Kardinalproblem der Eurozone bleibt jedoch bei allen diesen Vorschlägen ungelöst, wie die heute bereits bestehende Haftung der Eurogläubigerländer für die Schulden anderer Eurostaaten durch eine wirksame Kontrolle der Haushaltspolitik der Peripheriestaaten ergänzt werden kann. Die Lösung des Problems von Haftung und Kontrolle ist bei allen Reformideen nicht vorgesehen. Letztlich ist damit der Marsch von der Haftungsunion in die Transferunion intendiert.
An die Vokabel „Merkron“ wird man sich in Deutschland gewöhnen müssen. Damit wäre der Weg in die Transferunion zementiert. Wegen der anhaltenden Konvergenzdefizite Frankreichs mit Deutschland und den übrigen Stabilitätsländern in der Eurozone braucht unser Nachbar aber letztlich ein Ventil zum Ausgleich seiner Ungleichgewichte, d.h. einen flexiblen Wechselkurs gegenüber dieser Ländergruppe. Der ökonomische Fachbeobachter erinnert an die bereits vor 100 Jahren getroffene Feststellung des österreichischen Nationalökonomen Eugen von Böhm-Bawerk, wonach sich politische Macht eine Zeit lang halten kann, letztlich sich aber das ökonomische Gesetz durchsetzt oder populärer formuliert, dass politisch nicht richtig sein kann, was ökonomisch falsch ist.
Dr. Wolfgang Glomb ist Mitglied des Kuratoriums des liberalen Thinktanks Institut Thomas More in Paris. Er war bis zu seiner Pensionierung Ministerialrat im Bundesministerium der Finanzen und der seinerzeit zuständige Fachbeamte für die Konzeption und Einführung des Euros.