Auch bei den westlichen Nachbarn hat der russische Angriff auf die Ukraine das politische Koordinatensystem verschoben. Aber insgesamt ergibt sich der Eindruck, dass man in Frankreich etwas geschmeidiger auf die Zeitenwende zu reagieren weiß als in Deutschland. Auch Macron wurde von Putins Manövern im Vorfeld des Waffengangs auf dem falschen Fuß erwischt. Ähnlich wie Bundeskanzler Scholz blamierte sich auch der französische Präsident, indem er noch wenige Tage vor dem Angriff die Friedensbotschaften Putins verbreitete – die dieser vielleicht gar nicht gemeint hatte. Denn Paris und Berlin retuschierten die Gespräche in ihre Richtung, um sich selbst ein besseres Aussehen zu geben. Später mussten sie logischerweise vom „doppelten Spiel“ Moskaus sprechen, das insgesamt weniger ausgeprägt war, als sie uns glauben machen wollen.
Am Sonntag, dem 20. Februar, 11 Uhr Pariser Zeit (13 Uhr Moskauer Zeit), begann ein Telefonat zwischen Macron und Putin, das laut Élysée-Palast eine der „letzten möglichen und notwendigen Bemühungen“ darstellte, um einen größeren Konflikt in der Ukraine zu vermeiden. Kiew hatte da schon davor gewarnt, die Politik der Beschwichtigung gegenüber Moskau fortzusetzen, die angesichts von 150.000 Soldaten an der Grenze keinen Sinn mehr zu ergeben schien. Auch die NATO hatte vor einem „regelrechten Angriff“ Russlands gegen die Ukraine gewarnt. Ein Berater Macrons sagte: „Eine russische Militäraktion gegen die Ukraine würde den Krieg ins Herz Europas bringen.“
Moskaus zentrale Forderung: Sicherheitsgarantien der NATO
Aus den Meldungen der russischen Agentur TASS wird deutlich, dass Putin in dem eine Stunde und 45 Minuten dauernden Gespräch erneut forderte, dass die NATO sich nicht nur nicht weiter ostwärts ausbreite, sondern auch ihre Infrastruktur auf den Umfang des Jahres 1997 zurückbaut. Es war Ende 1997, als Polen, Ungarn und Tschechien die Beitrittsprotokolle unterzeichneten, um am 12. März 1999 schließlich NATO-Mitglieder zu werden. Die Forderung Putins ist weitgehend. Daneben beklagte er, die Waffenlieferungen an die Ukraine ermutigten das Land dazu, den Donbass-Konflikt mit Gewalt zu lösen.
Immer wieder forderte Moskau von der NATO „langfristige und rechtlich bindende Sicherheitsgarantien“, die ihm vom Westen verweigert wurden. Die Frage ist nur, ob es am 20. Februar nicht schon zu spät dafür war. Putin und Macron kamen überein, dass man das Normandie-Format wiederbeleben solle, um den Donbass-Konflikt zu lösen. Da Moskau aber gleichzeitig der Ukraine vorwarf, das Minsker Abkommen nicht zu erfüllen, nehmen diese Worte einen anderen Sinn an: Nicht der Kreml band sich dadurch, vielmehr machte er der ukrainischen Führung einen Vorwurf.
Dagegen schloss Macron aus dem Gespräch, dass auch Putin die „Notwendigkeit einer diplomatischen Lösung“ anerkannt habe, was wiederum der britische Premier Boris Johnson in einem Kommuniqué „ermutigend“ fand. Auch Scholz und Biden informierte Macron von seinen Gesprächen. Laut dem französischen Sender BFM TV gab es am Sonntag sogar noch ein zweites, einstündiges Gespräch. TASS berichtete später von einem Gespräch in der Nacht zum Montag, „bis zwei Uhr morgens“, in dem Macron von einer veränderten Haltung der USA zu europäischen Sicherheitsfragen berichtet habe, ohne diese allerdings genauer benennen zu können, so Putin am Montag.
Laut einem Sprecher des Élysée sagte der russische Präsident außerdem, dass die in Weißrussland stationierten russischen Truppen nach dem Ende der aktuellen Übungen abgezogen würden. Allerdings hörte man zur gleichen Zeit aus Minsk, dass die genannten „Übungen“ länger als ursprünglich geplant andauern sollten. Das könnte man inzwischen als makabren Ausdruck für diesen ganzen Krieg aus dem Munde des Kreml-Chefs ansehen – denn dieses Wort „Krieg“ kommt in russischen Medien ja bis heute nicht vor. Die Rede ist von „militärischen Spezialoperationen“, die inzwischen allerdings die „Demilitarisierung“ und vorgebliche „Entnazifizierung“ des gesamten Landes zum Ziel haben.
Putin sah einige „Saatkörner der Vernunft“ bei Macron
Als ob Macron von Putins Vorliebe für besondere Tagesdaten wusste, rief er auch am Mittag des 21. Februars noch einmal in Moskau an, ohne dass etwas inhaltlich Neues aus diesem Gespräch nach außen drang: geplante Wiederbelebung des Normandie-Formats einerseits, Fortsetzung der Kontakte zwischen russischem und französischem Außenministerium sowie politischen Beratern zum anderen. Indes versprach Wolodymyr Selenskyj laut TASS, die Waffenruhe im Donbass zu respektieren, was Moskau allerdings auch weiter nicht erkennen mochte. Ein Gipfeltreffen zwischen Putin und Biden wurde von Macron ventiliert, doch Putin wollte zunächst wissen, was darin besprochen werden könnte. Später am Montag erklärte der Sekretär des russischen Sicherheitsrates, Nikolai Patruschew, dass das wahre Ziel des Westens bei diesen geplanten Spitzengesprächen der „Zusammenbruch der Russischen Föderation“ sein würde. Kurz danach gab Putin bekannt, die Unabhängigkeit der Donbass-Republiken anerkennen zu wollen. Das geschah am Morgen des ominösen 22. Februar 2022.
Interessant bleibt ein weiterer Kommentar Putins zu diesen Gesprächen in Moskau: Einige der Vorschläge Macrons „könnten die Grundlage für weitere gemeinsame Schritte“ sein, doch sei es noch zu früh, um darüber zu sprechen. Das klingt fast nach einem Plan, den man gemeinsam entwarf, um ihn später umzusetzen.
Gehörte die tatsächlich gekommene Eskalation in der Ukraine am Ende zu dessen Voraussetzungen? Unsicher bleibt auch, ob Macron dem russischen Präsidenten überhaupt irgend etwas anbieten konnte, das Putin gesprächswürdig fand. Der Russe sprach von einigen „Saatkörnern der Vernunft“ beim französischen Präsidenten, die aber noch nicht erblüht seien. Durchaus möglich, dass Putin an dieser Stelle mit gespaltener Zunge redete, um diplomatischen Verhandlungseifer vorzutäuschen.
Doppeltes Spiel oder doppelte Realität?
Eine gewisse Nähe erhielt sich auch in den folgenden Tagen zwischen Macron und Putin. So sprach Macron am Donnerstag des Angriffs von „verhältnismäßigen“ Sanktionen, die den russischen Handlungen angemessen sein würden. Am Tag darauf sagte er, er halte es für seine Pflicht, den Dialog mit Moskau aufrecht zu erhalten, um ein Ende der militärischen Aktionen so bald wie möglich zu erlauben. Am selben Tag rief Macron erneut in Moskau an, um die russische Aggression im Namen Frankreichs zu verurteilen und den Waffenstillstandsvorschlag des ukrainischen Präsidenten Wolodymir Selenskyj zu überbringen. Laut dem Élysée war das Gespräch „kurz, direkt und offen“, laut Kreml „ernsthaft und offen“. Putin habe eine „genaue Erläuterung der Gründe und Umstände“ seiner Entscheidung gegeben. Diese Erläuterungen hätte man gerne gehört, aber vermutlich kennen wir ihren Inhalt aus Putins ausführlichen TV-Ansprachen zur Lage des Nachbarlandes.
Macron warf dem Kreml nun – ähnlich wie die deutsche Außenministerin – ein „doppeltes Spiel“ vor. Dabei hätte man nur die russischen Kommentare zu den gemeinsamen Gesprächen lesen müssen, um zu erkennen, dass es sich eher um eine doppelte Realität handelt, in der schon die gemeinsamen Gespräche vollkommen verschieden wahrgenommen und dargestellt wurden. Boshaft könnte man sagen: Eine Politiksimulation trifft auf eine reale, sicher auch brutale Politik.
Frankreich hat nun seine Pläne beschleunigt, Soldaten nach Estland und Rumänien zu schicken. Am Samstag rief der Präsident einen Verteidigungsrat zusammen, um die aktuelle Situation zu bewerten. Auch seinen Anteil an den ukrainischen Flüchtlingen will Frankreich angeblich aufnehmen. Inzwischen sind hunderttausende Ukrainer auf der Flucht, meist Richtung Polen und Moldau, doch auch Deutschland hat eine Einladung ausgesprochen und freie Bahnfahrten angeboten.