Ende März ging die Nato davon aus, dass Russland in seiner Invasion der Ukraine zwischen 7.000 und 14.000 Gefallene zu beklagen hat. Russische Stellen sprachen zeitgleich hingegen von etwas mehr als 1.300 Gefallenen. Dass der Kreml die Zahl an gefallenen Soldaten sowohl international als auch im eigenen Land verschleiert, gilt als sicher.
Nun hat Moskau erstmals zugegeben, dass die Zahl der Verluste doch höher als angegeben sein könnte. Kreml-Sprecher Dimitri Peskow sprach im Interview mit dem britischen Sender Sky News über „erhebliche Verluste“. „Das ist eine große Tragödie für uns“, so Peskow weiter. Dies sei jedoch kein Zeichen, dass der Kreml sich verschätzt habe.
Es ist das erste Mal, dass Russland Verluste in größerem Umfang zugibt – aber Beobachter schätzen, dass die Zahl tatsächlich beträchtlich ist. Sicherheitsexperte Mark Cancian vom Center for Strategic and International Studies in Washington, D.C. geht davon aus, dass die russischen Verluste bereits die 20.000-Marke überschritten haben. „Die Zahl der Verwundeten, die nicht schnell wieder in den Dienst zurückkehren können, ist in der Regel etwa doppelt so hoch wie die Zahl der Toten. Das würde bedeuten, dass Russland in den vier Wochen des Konflikts zwischen 21.000 und 45.000 Soldaten verloren hat.“ Zum Vergleich: Im zehnjährigen sowjetischen Afghanistan-Krieg, der in einer schmerzlichen Niederlage endete, fielen laut sowjetischen Zahlen rund 14.000 Mann.
Insgesamt könnte Russland bisher also ein Viertel seiner ursprünglichen Invasionsarmee verloren haben. Moskau hat bereits Verstärkung verlegt. Doch diese Verstärkung hängt ihren vorangegangenen Kameraden in Sachen Training und Erfahrung wahrscheinlich um einiges hinterher. Der Verlust von Elitetruppen wie beispielsweise Fallschirmjägern wird schwer zu kompensieren sein. Dazu kommt, dass die Personaldecke der russischen Armee ohnehin dünn ist: Dem russischen Heer stehen wohl insgesamt ca. 280.000 Mann sowie rund 120.000 Wehrpflichtige zur Verfügung, doch es fehlt eine trainierte und organisierte Reserve. Im Gegensatz zu vielen westlichen Ländern unterhält Russland nämlich keine aktiv trainierenden Reserveeinheiten.
Aktuell bereitet Moskau eine große Offensive im Donbass vor und zieht dafür Truppen zusammen. Die exponierte ukrainische Position entlang der alten Kontaktlinie ist heikel: Einerseits hat die ukrainische Armee hier teils schwere Stellungen aufgebaut, die man nicht aufgeben will und bei anhaltenden Kämpfen auch nur schwer aufgeben kann. Andererseits sitzen die rund 30.000 ukrainischen Soldaten entlang dieser Linie in der Falle, wenn es Russland gelingt, sie von hinten anzugreifen. Öffnet man die Linie allerdings, könnte Russland von Donezk aus einfacher Material und Truppen weiter ins Landesinnere führen.
Russland forciert seine Kräfte daher zu einer Zangenbewegung und lässt dafür die Truppen, die ursprünglich um Kiew und im Nordosten der Ukraine eingesetzt wurden, hierhin anrücken. Doch das gigantische logistische Unternehmen braucht Zeit, zumal genau die Logistik ja die strategische russische Schwäche zu sein scheint. Gleichzeitig haben die Ukrainer bereits einen großen Teil ihrer Truppen von der Linie abziehen können und verstärken jetzt ihre Flanken mit ebenfalls freigewordenen Einheiten und führen hier teils begrenzte Gegenoffensiven durch. Bisher hat Russland hier zwar noch erhebliche technische Überlegenheit, aber hat nur eine sehr begrenzte Mannstärke, die bis dato wohl kaum für eine durchschlagende Offensive ausreicht. Die Frage ist also, wie schnell Russland seine frei gewordenen Einheiten an die Front bewegen kann.
Dabei läuft die Zeit gleich doppelt gegen Russland. Denn die Ukraine bekommt parallel auch immer stärkere Waffenlieferungen, vor allem auch von dringend benötigtem schweren Gerät: Kampf- und Schützenpanzer aus Ostblock-Beständen aus Osteuropa, Drohnen. Die Slowakei lieferte jüngst sogar das schwere Flugabwehrsystem S-300.
Dass die Lieferungen wirken, zeigt sich auch daran, dass die Ukraine weiter überraschend handlungsfähig ist. So scheint es ihr etwa weiterhin zu gelingen, die eingeschlossenen Truppen in Mariupol per Helikopter mit Nachschub zu versorgen.
Es ist ein brutales Rennen um Zeit, Material und Menschenleben. Die Zerschlagung ukrainischer Verbände im Donbass dürfte Putins letzte Chance sein, den Krieg so zumindest mit einem Teilsieg zu beenden. Ansonsten müsste er mobil machen und Wehrpflichtige an die Front schicken – wie weit er das innenpolitisch aber vertreten kann, ist fraglich.
Von Max Roland und Max Mannhart