Schon die Sowjets verstanden es meisterhaft, auf den Gefühlslagen der westlichen Öffentlichkeit zu spielen. Man denke nur an die Hochzeiten der sogenannten Friedensbewegung in den 80er Jahren. Die Scharen der „Friedensbewegung, die von vielen zu Recht als „Moskaus Idioten“ bezeichnet wurden, protestierten auf Straßen und Plätzen der Bundesrepublik zu Hunderttausenden gegen die geplante Nachrüstung der NATO als Antwort auf die Stationierung von sowjetischen SS 20-Raketen auch auf dem Boden der DDR. Angeführt wurde der Protest von prominenten Vertretern der vereinten Linken, einschließlich großer Teile der evangelischen Kirche, bei, wie man heute weiß, großzügiger finanzieller Unterstützung und Argumentationshilfe der Propaganda-Spezialisten in Moskau und Ost-Berlin. Die Sowjetunion wie auch die DDR sind bekanntlich untergegangen, aber die Formen der Propaganda sind die gleichen geblieben.
Jüngstes Beispiel ist die in dieser Woche breit verkündete Verringerung der russischen Militärpräsenz an der Grenze zur Ukraine und auf der Krim. Nach NATO-Erkenntnissen wurden dort nicht nur etwa 150.000 Soldaten stationiert, sondern auch die für eine Angriffshandlung unerlässliche Artillerie in Form von Geschützen und Raketenwerfern hinter den mobilen Einsatzkräften in Stellung gebracht. Der Präsident der Ukraine, Selensky, warnte öffentlich vor einem unmittelbar bevorstehenden Überfall auf sein Land. Der Westen war, wenn auch von der Öffentlichkeit nicht so bemerkt, in höchste Beunruhigung geraten. Denn ebenso wie die Ukraine befürchteten auch die Regierungen der Nato-Mitglieder Litauen, Estland und Lettland eine russische Aggression. Nun aber kam das, auf das Alle gehofft hatten. Die russische Armee zog ihre Truppen teilweise zurück und Präsident Putin erklärte sich bereit, seinen Kiewer Gegenpart im Kreml zu empfangen. Alles also nur ein Sturm im Wasserglas?
Einen Tag später wurde Lukaschenko zur Befehlsausgabe nach Moskau bestellt. Was jetzt noch fehlt, ist die Bitte um russische Hilfe gegen die „Umsturzversuche der CIA“. Jeder, der noch ein wenig mit der Geschichte des vorigen Jahrhunderts vertraut ist, wird sich dabei unwillkürlich an den Hilferuf tschechoslawkischer Arbeiter im Sommer 1968 an die sowjetischen Brüder erinnern. Wenn auch freilich diese Arbeiter nie bekannt wurden, wurde die Bitte bekanntlich sofort erhört. In den frühen Morgenstunden des 21. August 1968 überschritten massive Truppenverbände des Warschauer Paktes die Grenze des Bruderstaates und beerdigten den Versuch eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ durch brutale Gewalt und die Entmachtung der Führung unter Alexander Dubcek. Über Nacht war aus dem „Prager Frühling“ ein stalinistischer Winter geworden. Die Empörung im Westen war groß.
Bei einer möglichen Annexion Weißrusslands wird Putin dies nicht befürchten, zwar wird es in den ersten Tagen Proteste geben, doch bald wird sich die Meinung durchsetzen, da dssie Weißrussische Republik ja immer schon ein Teil Russlands gewesen sei und das ganze somit in Wirklichkeit eine innerrussische Angelegenheit. Die weißrussische Bevölkerung, die die verhasste Lukaschenko-Diktatur nach einem Mega-Wahlbetrug loswerden wollte, interessiert dabei niemanden. Neu wäre, dass Russland plötzlich eine gemeinsame Grenze mit den NATO-Partnern Lettland, Litauen und Polen hätte. Ganz davon abgesehen, dass der Weg nach Kiew sich wesentlich verkürzte, leben insbesondere in Litauen und Lettland viele Russen, die von Moskau als eigene Staatsbürger betrachtet werden. Bräuchten diese Schutz, so Putin immer wieder, könnten sie fest auf die Hilfe von Mütterchen Russland rechnen.
Am Wochenende wurde übrigens bekannt, dass die russischen Einheiten auf der Krim von der Rückverlagerung der Truppen nicht betroffen sind. Zugleich sind die Soldaten an der Grenze zur Ukraine ohne ihre Gefechtsausrüstung abgezogen. Sie können also innerhalb kürzester Zeit zu den Geschützen und Raketenwerfern zurückkehren. Unverändert ist auch die erhöhte Präsenz von russischen Kriegsschiffen zur Abriegelung des Zugangs der Ukraine zu offenen Gewässern nicht aufgehoben. Dabei hatte doch US-Präsident Biden zwei sich bereits auf dem Weg in die Region befindliche US-Kriegsschiffe zurückbeordert. Immerhin, und das stimmt zuversichtlich, hat Russlands Präsident Putin am Sonnabend die Einladung Bidens zu einem Gipfeltreffen im Juni angenommen.