Vor den Kameras versucht der russische Staatspräsident den Eindruck zu vermitteln, dass er nach wie vor an die Richtigkeit der Kausalketten glaubt, die er konstruiert. Täglich kommen neue Erklärungen hinzu, die der aktuellen Kriegssituation in der Ukraine angepasst werden müssen. Doch die Fassade bröckelt. Und zwar nicht nur deshalb, weil Wladimir Putin erstmals seit zehn Jahren die traditionelle Jahrespressekonferenz im Dezember ausfallen lässt. Nun droht obendrein sein Anti-Nato-Bündnis zu zerfallen, dessen Unterstützung er eigentlich immer gewiss sein durfte. Es sollte das Einfallstor für die russische Vorherrschaft in der Region sein. Eines, welches die Rückkehr zu einer Idylle versprach, die es nie gegeben hat. Und auch nie geben wird.
Paschinjan war sicherlich deshalb unzufrieden, weil nach den Angriffen Aserbaidschans auf armenische Grenzstädte im Konflikt um die Region Bergkarabach eine dezidierte Reaktion der OVKS ausblieb. Moskau hat sich zudem nie von Baku distanziert, jedenfalls nicht in der Form, die dem armenischen Premier gefiele. Selbstredend hat Putin derzeit andere Probleme, hat er sich doch in der Ukraine in eine äußerst diffizile Situation gebracht. Er steckt schon so tief in dem von ihm fabrizierten Misthaufen, dass ein Akt der Gesichtswahrung gar nicht mehr möglich ist.
Indessen schwächen ihn die militärischen Rückschläge am Dnepr auch innerhalb des Anti-Nato-Bündnisses. Vor der russischen Invasion in der Ukraine hätte es Armeniens Regierungschef kaum gewagt, den Kreml-Chef derart ostentativ bloßzustellen. Putin hatte schon vorher seine Schwierigkeiten mit Paschinjan. Während der Revolution in Armenien im Jahr 2018 spielte er eine überaus wichtige Rolle. In Moskau werden ihm bis heute Sympathien für den Westen attestiert. Dennoch wurde er von Putin toleriert, weil er sich selten zu russlandfeindlichen Wortkaskaden hinreißen ließ. Ein im postsowjetischen Raum durch eine soziale Erhebung herbeigeführter Machtwechsel (wie in Jerewan) wird im Kremlpalast allerdings immer Misstrauen erwecken. Und wie gestalten sich die Beziehungen Russlands zu den anderen OVKS-Mitgliedsstaaten?
Nach dem 24. Februar folgte eine vorsichtige Distanzierung Astanas vom langjährigen Verbündeten. Der neue kasachische Staatschef Qassym-Schomart Toqajew verurteilte Putins „Spezialoperation“, weil sie die Handelsbeziehungen mit der Ukraine erheblich erschwerte. In einer ebenso unverblümten Weise hat er die Annexionspläne des russischen Regimes kritisiert. Toqajew hat Putin bereits früh zu verstehen gegeben, dass die von ihm in den Oblasten Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson hervorgehobenen Machtpositionen rechtswidrig und dauerhaft nicht zu halten seien. In vielerlei Hinsicht ist Kasachstan jedoch weiterhin auf die Unterstützung Russlands angewiesen. Dafür sorgt allein schon die Tatsache, dass beinahe 90 Prozent des kasachischen Erdöls aus russischen Pipelines fließen.
Deshalb wird Toqajew gewiss nicht jede Gelegenheit nutzen, um seiner Empörung gegenüber Moskau Ausdruck zu verleihen. Erst recht nicht während eines OVKS-Gipfels. Kasachstans Präsident beherrscht das polyphone Klavierspiel der Diplomatie: Einerseits spricht er den Angehörigen der ukrainischen Opfer sein „tiefstes Mitgefühl“ aus und einige Stunden später echauffiert er sich über den Ausschluss Russlands aus dem Europarat sowie die „drakonischen“ Maßnahmen der USA und der EU. Toqajews mehrdeutige Deklarationen irritieren Moskau zunehmend. Der kremltreue Politologe Dmitrij Drobnicki sagte kürzlich, dass nach der „erfolgreichen Mission“ in Kiew schließlich auch Astana „entnazifiziert“ werden müsse.
Sorgenfalten bereitet Wladimir Putin auch das OVKS-Mitgliedsland Kirgistan. Die zentralasiatische Ex-Sowjetrepublik versucht sich weiterhin zu emanzipieren. Wenn es nach den Parlamentariern in Bischkek ginge, sollen bald alle russischen Straßennamen aus den kirgisischen Städten verschwinden. Das Außenministerium in Moskau habe dem Präsidenten der Kirgisischen Republik Sadyr Dschaparow bereits davon abgeraten, den „ukrainischen Weg“ zu beschreiten. Seine Antwort mag aus russischer Sicht verblüffend gewesen sein: Er sagte prompt die Teilnahme an gemeinsamen militärischen Manövern ab.
Eigentlich ist nur noch der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko völlig linientreu. Manchmal wirkt er deshalb etwas orientierungs- und fassungslos, kann die glaubensschwachen Bekenntnisse anderer Kollegen zum Sicherheitsbündnis nicht begreifen. Vermutlich ist dessen Erosion aber nicht mehr aufzuhalten. Obschon sich Putins Verbündete noch nicht für den endgültigen Treuebruch entschieden haben, werden langsam Risse erkennbar. Die westlichen Sanktionen gegenüber Russland treffen ebenso den wirtschaftlichen Nerv der OVKS-Staaten, die nicht einmal an der „Spezialoperation“ in der Ukraine teilnehmen. Manche von ihnen bezweifeln derweil die militärische Einsatzfähigkeit des Bündnisses, die zwar offensichtlich dafür ausreicht, Kasachstan vor einem Bürgerkrieg zu bewahren, jedoch nicht einmal Armenien vor Aserbaidschan zu schützen vermag. Ein französischer Präsident hat die Nato einst als „hirntot“ bezeichnet. Nein, das ist sie nicht. Die OVKS aber schon.