Tichys Einblick
Wahlkampfrede ohne Opposition

Putin: Nichts Neues im Osten

In seiner Ansprache an die Nation konzentriert sich Wladimir Putin vor den Wahlen eher auf interne Ansagen als auf das Ausland. Auch ein Aufreger in den westlichen Medien stellt sich als lau heraus. Anders als Ursula von der Leyen und Joe Biden hat Putin Zeit, einen besseren „Deal“ abzuwarten.

IMAGO / ITAR-TASS

Schon im Voraus hatte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow klargemacht: Bei der anstehenden Rede Wladimir Putins werde es keinen großen Teil geben, der an das Ausland gerichtet sei. In der Hauptsache ginge es um Russland selbst – und dessen Souveränität. Natürlich werde sie aber von Analysten rund um den Globus wahrgenommen werden – und sie eine lange Zeit beschäftigen.

Die Rede warf bereits länger ihren Schatten voraus. Dafür gibt es mehrere Gründe. Innenpolitisch stehen in zwei Wochen Wahlen an. Dass diese nur unter eingeschränkten Bedingungen möglich sind, zeigt der Tod von Alexei Nawalny kurz vor dem Wahltermin.

In der Ukraine-Frage zeichnet sich seit Wochen ab, dass die USA einerseits im Zuge des Präsidentschaftswahlkampfes ihre Unterstützung zusehends zurückschraubt; andererseits changieren die EU-Partner zwischen Desinteresse und möglichem Bodentruppeneinsatz.

Zugleich hatte Moskau den Hilferuf aus Transnistrien nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch betont, dass die Interessen der Bevölkerung des abtrünnigen moldauischen Teilterritoriums eine „Priorität“ Russlands sei. In Transnistrien sind rund anderthalbtausend russische Soldaten stationiert.

Während am Ende des Jahres sowohl die EU-Kommission wie auch die US-Regierung umbesetzt sein könnte, wird überdies in Moskau erwartet, dass dort auch in den Folgejahren Kontinuität gewahrt wird. Dass Putin einen weiteren „Sechs-Jahresplan“ vorstellen würde, war schon zuvor erwartet worden. Eine bittere Erkenntnis im Westen, der zu Beginn des Ukraine-Krieges noch gehofft hatte, Russland würde wie ein Kartenhaus zusammenbrechen. Indes ist die Kriegsmüdigkeit in Europa nicht zuletzt auf die hiesige Wirtschaftslage zurückzuführen.

Für den russischen Präsidenten ist diese Situation eine Vorlage. Er prognostiziert für das Jahr 2028, dass die BRICS-Staaten 37 Prozent des globalen BIP ausmachten, indes die G7-Staaten unter die 28-Prozent-Marke fielen. „Diese Zahlen sind durchaus aussagekräftig, da die Situation noch vor 10 oder 15 Jahren völlig anders war“, erklärt Putin. „Dies sind die globalen Trends, denen man sich nicht entziehen kann, da sie objektive Realität sind.“

Putin kündigt daher einen Umbau der globalen Finanzwirtschaft mit freundlich gesinnten Nationen an. „Dies ist besonders wichtig, wenn man bedenkt, dass der Westen sein eigenes Währungs- und Bankensystem untergräbt, indem er den Zweig, auf dem er sitzt, buchstäblich absägt.“ Man ziele für die Zukunft auf eine „Greater Eurasian Partnership“. Er betonte auch den positiven Austausch mit ASEAN und den Staaten des Nahen Ostens. Unausgesprochen machte Putin damit deutlich, dass es außerhalb des Westens noch genügend Ansprechpartner für finanzielle, wirtschaftliche und politische Projekte gibt.

Im Sinne des Ukraine-Krieges bleibt vieles beim Alten: Immer noch gilt es, eine „Spezialoperation“ zu beenden, immer noch sind es „Nazis“, die es zu beseitigen gilt. Die Ukraine, nicht Russland habe angegriffen, man unterstütze lediglich die in den abtrünnigen Teilrepubliken der Ostukraine bedrängten Landsleute. „Wir waren nicht diejenigen, die den Krieg im Donbass entfesselt haben, aber wie ich wiederholt gesagt habe, werden wir alles tun, um ihn zu beenden“, so Putin.

Es ist dabei nicht uninteressant zu erwähnen, dass Putin Russland zu einem Gegenbild aufbaut, das möglichst im Gegensatz zur „Nazi-Ukraine“ stehen soll. Die militärische Spezialoperation soll den „Nazismus ausrotten“ so Putin. Bei Russland betont Putin dagegen den multinationalen und multireligiösen Ansatz. Dem Westen warf er dagegen „koloniales Verhalten“ vor. Putin kann also auch woke. Das entspricht übrigens auch einer Linie, die der Staatspräsident schon im Interview mit Tucker Carlson zeigte: Von der Orthodoxie als Richtschnur oder einer russischen Leitkultur war da nur wenig zu spüren. Es regiert der kalte KGB-Apparat, der seine Massen verschiebt.

Das Ukraine-Narrativ wird im Gegensatz zu dieser nüchternen Machtpolitik verklärt, gar mystisch zum „Russischen Frühling“ erhoben, der vor zehn Jahren auf der Krim begonnen habe: „Auch heute noch macht die Energie, Aufrichtigkeit und der Mut seiner Helden – der Menschen auf der Krim, in Sewastopol und im rebellischen Donbass – und ihre Liebe zum Mutterland, die sie über Generationen hinweg getragen haben, natürlich stolz“, so der Kremlchef.

Putin rekurriert auf den historischen Topos, dass man Russland zerteilen und zerstören wollte, es sich aber umso stärker geeint dieser Bedrohung entgegengesetzt hätte; das dürfte sich eben nicht nur auf den „Großen Vaterländischen Krieg“ gegen Hitler oder den Vorgängerkrieg gegen Napoleon beziehen, sondern auch auf die Zeit der Wirren, die Einsetzung des falschen Dimitri und die Auflösung der Kiewer Rus in Kleinterritorien unter der Mongolenherrschaft. Der Mythos der „Sammlung der russischen Erde“, wie es die Geschichte der Großfürsten und späteren Zaren von Moskau bestimmt, erlebt seine Neuauflage: Putin will sich selbst nicht zum Fürsten erheben, sondern spricht freilich von den „Patrioten“, die diesen Frühling initiiert haben, doch die Anspielungen sind klar.

Dieser neuen, noch nicht vollendeten russischen Einheit im territorialen Sinne geht die Willenskraft, Solidarität und Einigkeit der Bevölkerung im idealen Sinne voraus. „Trotz der härtesten Prüfungen und bitteren Verluste sind die Menschen standhaft bei ihrer Entscheidung geblieben und bekräftigen sie, indem sie versuchen, so viel wie möglich für ihr Land und das Gemeinwohl zu tun“, hebt der Präsident hervor. Eine überwältigende Mehrheit der Russen stünde hinter der Regierung.

In einem Jargon, der an das Kolorit des Arbeiter- und Bauernpathos der Sowjetunion erinnern lässt, betont Putin auch die Rolle der Wirtschaft: „Die russische Industrie arbeitet in drei Schichten daran, so viele Produkte auf den Markt zu bringen, wie an der Front benötigt werden. Die gesamte Wirtschaft, die die industrielle und technologische Grundlage für unseren Sieg bildet, hat Flexibilität und Widerstandsfähigkeit bewiesen. Ich möchte allen Wirtschaftsführern, Ingenieuren, Arbeitern und Landwirten für ihre verantwortungsvolle und harte Arbeit im Interesse Russlands danken.“

Die von den meisten westlichen Medien veröffentlichte Schlagzeile, dass Putin mit einem Nuklearschlag drohe, muss mindestens eingeordnet werden. Vielmehr ist es so, dass Putin auch auf den „Wahnsinn“ einging, nämlich die Idee Emmanuel Macrons, Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden. Zwar sollten sich diese nicht an Kampfeinsätzen beteiligen, wie dies jedoch in einem umkämpften Gebiet möglich sein soll, und was die Konsequenzen wären, wenn Nato-Truppen dennoch in Kämpfe involviert oder angegriffen würden – das bleibt das Geheimnis des französischen Staatspräsidenten. Die Folge einer solchen Intervention nannte Putin „tragisch“. „Wir haben auch Waffen, die Ziele auf ihrem Territorium treffen können. All das droht wirklich: ein Konflikt mit dem Einsatz von Atomwaffen und der Zerstörung der Zivilisation. Verstehen sie das nicht?“

Damit hat Putin den Tatsachenbestand seit 1949 in Erinnerung gerufen, als die Sowjetunion ihre erste Atombombe testete. Von da an war klar, dass das Aufeinandertreffen konventioneller Streitkräfte von Nato und Warschauer Pakt immer die Gefahr eines nuklearen Krieges barg, ob nun unter Einsatz taktischer Nuklearwaffen auf dem Schlachtfeld oder massiver gegenseitiger Vernichtung. Das größte Atomwaffenarsenal ist nichts mehr wert, wenn der Atomwaffenbesitzer zu verstehen gibt, dass er sein Arsenal nicht einzusetzen gedenkt. Das war bereits im Kalten Krieg so, und es besteht vielleicht Hoffnung, aber kein Anlass dazu, davon auszugehen, dass sich seitdem etwas geändert hätte.

Putin betont die Fortschritte der Armee, im Feld wie auch technologisch, und bringt die neuen Hyperschallwaffen ins Spiel. Den Vereinigten Staaten wirft er Heuchelei vor. Bei den USA habe man mit einem Staat zu tun, dessen Elite zu feindlichen Maßnahmen gegen Russland griffe. „Sie beabsichtigen also ernsthaft, strategische Sicherheitsfragen mit uns zu besprechen und gleichzeitig zu versuchen, Russland auf dem Schlachtfeld eine strategische Niederlage zuzufügen“, so Putin.

Russland sei bereit zu Stabilitätsverhandlungen, doch die USA seien durch ihre Handlungen in den letzten 15 Jahren unglaubwürdig geworden. Man nehme den Versuch wahr, Russland in ein neues Wettrüsten zu verwickeln; Putin deutet an, dass man verteidigungstechnisch materiell wie technologisch aufrüsten werde, sich aber nicht wie damals in die Ermüdung treiben lasse. Den Vorwurf, Russland plane eine Invasion Europas, nannte er „völlig unbegründet“ und hielt stattdessen dem Westen vor, seit Jahrzehnten für Instabilitäten – etwa im Nahen Osten – zu sorgen und über eine Destabilisierung Russlands nachzudenken.

Ein großer Teil der Putin-Rede bezog sich innenpolitisch auch auf die Demographieentwicklung und Familienpolitik. Ohne die Lösung des Demographieproblems sei an Zukunftsformate für die Wirtschaft kaum zu denken. Der russische Präsident kündigte eine Erhöhung des Kindergeldes an und eine bessere Familienpolitik in den kommenden Jahren, um die russische Geburtenrate zu verbessern.

Freilich fällt auf, was der Rede fehlt: etwa eine Bezugnahme auf die Ereignisse in Transnistrien. Im weitaus größten Teil bezieht sich Putin auf interne Angelegenheiten und verspricht wie bei der Familienpolitik Wahlgeschenke. Der Zusammenhalt nach innen ist Putin in seiner Rede wichtiger als die Wirkung nach außen. Dass Putin dabei auch Probleme beim Ukraine-Feldzug zugibt, kann man zweierlei deuten. Auf jeden Fall fühlt er sich sicher genug, offen darüber zu reden als Äußerungen auszuklammern, die noch vor einiger Zeit zur „Entfernung“ von Offizieren hätten führen können.

Was Putin wiederum in Richtung Westen klarmacht: Das Tischtuch ist zwar nicht zerschnitten, hat aber erhebliche Risse – die nur geflickt werden können zu den Konzessionen Moskaus. Welche Zugeständnisse das sind, nennt Putin in seiner Wahlkampfrede nicht. Vielleicht wartet er aber auch nur ab. Derzeit sind die USA in der Ukraine-Frage im Zugzwang. Sollte Washington nicht eine Möglichkeit suchen, den unpopulären Ukraine-Krieg zu befrieden, um im Wahlkampf nicht den Kürzeren zu ziehen, könnte im Weißen Haus bald ein Präsident sitzen, mit dem man eher einen Deal machen kann. Dieses Jahr hat Putin Zeit. Dem Westen rinnt sie dagegen durch die Hände.

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