Wie halb Frankreich mit Macht eine demokratische Kandidatin bekämpft
Matthias Nikolaidis
Viel ist in der Mache rund um den zweiten und entscheidenden Wahlgang in Frankreich. Nun zielen sogar offizielle Behördenchefs auf Marine Le Pen. Ist es mehr als ein moralisches Vorurteil, das zu solchem Handeln führt?
„Sie sind eine Klimaskeptikerin“, sagte Emmanuel Macron am Mittwochabend zu Marine Le Pen. Die verneinte: „Ich bin absolut keine Klimaskeptikerin, aber Sie sind ein bisschen Klimaheuchler.“ Le Pen traf so einen wunden Punkt in der Kampagne des Präsidenten, der sich derzeit bemüht, linke und grün tendierende Wähler in sein wirtschaftsliberales Lager hinüberzuziehen. Doch als die ebenfalls häufig linksdrehende Twitter-Gemeinde nach der Debatte jede schnittige Replik des Präsidenten-Kandidaten und sogar die von ihm einstudierte, bemüht sorgenvolle Körpersprache feierte, kamen Wortwechsel wie dieser naturgemäß nicht vor.
Im Gegensatz zu der Worthülse, die der amtierende Präsident hier wiederkäute, um linksgrünen Wählern zu schmeicheln (denn was wäre am Nachdenken, an Skepsis über das Klima per se falsch?), erinnerte Le Pen so daran, dass Frankreich so oder so, mit und ohne Windkraftausbau, grüne Energie in Mengen erzeugt, auch wenn man das in der deutsch-grünen Parteizentrale und den angeschlossenen Rundfunkanstalten (etwa dem ZDF) nicht so sehen mag.
Doch auch in Frankreich ist die Diskussion über die beiden verbliebenen Kandidaten nicht unbedingt ausgewogen. Vor dem zweiten Wahlgang schießen auch hier die Pressionen hoch, die sich, wie zu erwarten war, vor allem gegen eine Wahl Marine Le Pens wenden. Macron verglich eine Stimme für Le Pen nun gar mit einer Stimme für den Brexit oder für Trump. Schon am Mittwoch wies er darauf hin, dass mehrere Leiter öffentlicher Behörden sich präventiv einer Zusammenarbeit mit einer Staatspräsidentin Le Pen verweigert hätten.
An vorderster Front steht dabei der Leiter des französischen Einwanderungsamtes, der eine Meldung zwischen Irrelevanz und Skandal erzeugte. Didier Leschi ist erst seit Januar Chef der staatlichen Behörde für Immigration und Integration (Ofii) und hat angekündigt, im Falle ihres Wahlsiegs nicht mit Marine Le Pen kooperieren zu wollen. Die Frage ist zunächst, was das überhaupt bedeuten soll. Denn als Behördenleiter untersteht er natürlich den demokratisch gewählten Repräsentanten. Leschi sieht selbst ein, dass seine Ankündigung weder den Üblichkeiten noch den Gesetzen seines Landes entspricht. Er will aber einfach nicht mit einer politischen Führung zusammenarbeiten, die laut ihm „mit unseren republikanischen Traditionen bricht“. Das ist der übliche Missbrauch, der heute oft mit dem Wörtchen „demokratisch“ geschieht – als ob es bestimmte Auffassungen von vornherein ausschließen würde. An dem Pressestatement eines subalternen Behördenchefs, der sich für die Zuwanderung nach Frankreich zuständig fühlt, zeigt sich aber auch, wie gespalten das Land tatsächlich ist.
Le Pen will nationales Recht über EU-Recht stellen
In aktuellen Äußerungen wehrt sich Le Pen ausdrücklich gegen den Vorwurf, sie oder ihre Partei seien „antirepublikanisch“ oder „antidemokratisch“ und bezeichnet stattdessen Macrons Amtszeit als „fünf Jahre der Demokratie-Verweigerung“. Le Pen will folglich die Demokratie im Land wiederherstellen, die Verachtung der Bürger durch die Regierung beenden und die „Grenzen der Republik“ schützen. Dabei sollen auch neue Referenden helfen, in denen das französische Volk seine Meinung direkt kundtun kann, darunter ein Plebiszit zum Thema Migration, das sie so oder so im Herbst ins Leben rufen will.
Doch weitere Hindernisse werden einer möglichen Wahlsiegerin Le Pen in den Weg gelegt. Als die Kandidatin vorschlug, ähnlich wie Polen die Mehrwertsteuersätze auf Treibstoffe und Energieträger zu senken, da rauschte pflichtgemäß die Frage durch den Blätterwald, ob das überhaupt mit dem EU-Recht vereinbar sei. Die Pointe ist freilich, dass Le Pen fordert, dass eben dieses EU-Recht nicht mehr nationales französisches Recht schlagen soll. Auch damit folgt sie Polen, dessen Verfassungsgericht dem polnischen Recht im vergangenen Herbst Vorrang vor dem Recht der EU gegeben hatte.
Frankreich ist also gespalten – in einen Teil, der die Dinge so weiterlaufen lassen will, wie sie sind, und einen anderen Teil, der das für schädlich und gefährlich hält. Welcher Teil größer ist, kann erst der Wahltag sagen. Aber Umfragen weisen wie immer den Weg für die öffentliche Meinung, egal ob man das gut findet oder nicht-
Die Front gegen die Kandidatin ist kleiner geworden
Was kann man also vor der Stichwahl vom Sonntag wissen? Macrons Mehrheit wird vermutlich im Vergleich zu 2017 etwas zusammenschrumpfen. Damals gewann er mit 66 Prozent, Marine Le Pen konnte 34 Prozent erringen. Doch soviel gewannen alle rechts-souveränistischen Parteien dieses Mal bereits im ersten Wahlgang. Derzeit ist die Schere zwischen den beiden Kandidaten wieder etwas aufgegangen. Das kann man als Neufassung der „republikanischen Front“ sehen oder als den Wunsch der Wähler, auf der richtigen Seite, der Seite des Siegers zu stehen. Diese Neigung erklärt zum Teil auch die Konzentration auf die drei „Hauptkandidaten“ Macron, Le Pen und Mélenchon, die kurz vor der ersten Runde teils stark zulegen konnten – am meisten Jean-Luc Mélenchon, hinter dem vielleicht nicht so viele Linke stehen, wie ihn am Ende gewählt haben.
Die Bereitschaft, für einen anderen als den eigenen Herzenskandidaten zu stimmen, war insofern rational, als Linke, Rechte und Macronisten ihren Kandidaten in die Stichwahl bringen wollten. So erklärt sich auch das am Ende nur respektable Ergebnis eines Éric Zemmour, der zuvor in den Umfragen gegenüber Marine Le Pen ins Hintertreffen geraten war.
Auch die Verbesserung der Macron-Werte nach dem ersten Wahlgang passt in diese Logik, denn natürlich verbreiten in diesem Moment die meisten Medien die Erwartung, dass Macron die Wahl gewinnen wird. Es ist also hohe Zeit, auch auf diesen Zug aufzuspringen und nicht mehr so genau zu überlegen, ob es das wirklich wert ist.
Die Mehrheit der Franzosen befürwortete ein Remigrationsministerium
Tatsächlich lässt sich sagen, dass viele Franzosen zwar die Ziele der Le Pen, Zemmour oder auch Nicolas Dupont-Aignan teilen, die sich alle im Spannungsfeld zwischen Souveränismus und Bürgernähe (vulgo Populismus) tummeln, sich am Ende aber aus einem moralischen Vorurteil heraus nicht trauen, auch so abzustimmen. Die Linke und das Establishment fürchten nichts mehr, als dass eines Tages ein charismatischer Kandidat mit einer starken Parteiorganisation im Rücken für dieselben Ideen antritt, die schon heute eine Mehrheit im Volk haben.
Beispiele gefällig? In einer Umfrage von Ende März waren 55 Prozent der Abstimmenden für das von Zemmour vorgeschlagene Ministerium für Remigration, das sich um die Abschiebung von klandestinen, delinquenten und kriminellen Migranten kümmern soll. Éric Zemmour hatte dieses Ergebnis mit den Worten kommentiert: „Das erstaunt mich kaum. Es sind die Medien und die Politiker, die behaupten, unsere Vorschläge seien polarisierend. Im Land selbst sind sie Konsens.“ Auch 48 Prozent der Unterstützer von Emmanuel Macron stimmten diesem Vorschlag zu, von dem sich allerdings Le Pen und die Républicains sogleich distanzierten.
Aktuell berichtet der israelisch-französische Sänger Amir von der Verwandlung des Pariser Vororts Sarcelles aus einem „multikulturellen Paradies“ in einen Ort, an dem die aggressive Stimmung der abgehängten Bevölkerung in Kriminalität umschlägt.
Und bei noch einem Thema könnte Le Pen oder eine Kandidatin mit ähnlichen Vorstellungen punkten: Laut einer Umfrage für die Zeitschrift Elle glaubt die Hälfte der Befragten, dass sich Marine Le Pen für die Interessen der Frauen stark machen wird – gegenüber nur 30 Prozent für Emmanuel Macron. Die Magazinmacher von Elle distanzierten sich inzwischen explizit von diesem Ergebnis einer Umfrage unter wahlberechtigten Französinnen – mit den üblichen Argumenten, die Le Pen einen Mangel an Gleichheits- und Diversitäts-Ideen vorwerfen.
Derweil ist die Redaktion der Wochenzeitschrift Marianne empört über den Eigentümer des Blattes: Der tschechische Unternehmer Daniel Křetínský änderte den Titel des aktuellen Hefts mit den tatortartig ausgeschnittenen Augenpaaren von Macron und Le Pen. Die Unterschrift unter den beiden Augenpaaren war schon ursprünglich ein eindeutiger Kommentar: „Die Wut (Macron)… oder das Chaos (Le Pen)?“ Křetínský reichte das nicht, er wollte einen eindeutigen Wahlaufruf zugunsten Macrons: „Trotz der Wut… verhindern wir das Chaos“.
Bürgerkrieg nach Kopftuchverbot? Le Pen glaubt nicht daran
Was das Verschleierungsverbot in der Öffentlichkeit angeht, hatte Le Pen vor dem Macron-Duell etwas gewackelt. Auch in der Debatte vom Mittwoch schien sie bei der Antwort zu patzen und sagte zunächst, dass sie nicht für ein Verbot sei, um sich sogleich zu korrigieren. Inzwischen hat sie nachgelegt und deutet das Vorhaben zum Kulturkampf um, den auszufechten sie gewillt ist. Gegenüber den privaten Sendern Europe 1 und CNEWS sprach sie von einer „Inflation“ der kopftuchtragenden Frauen: „Die, die es nicht tragen, werden isoliert und verurteilt, und das im Frankreich von 2022. Das kann ich nicht akzeptieren.“
Die Burka ist in Frankreich bereits seit 2011 verboten. Ein Kopftuchverbot könnte dennoch für hohe Wellen sorgen. In der Debatte hatte Macron gesagt, dieses Verbot werde zu einem „Bürgerkrieg“ führen. Dem widersprach Le Pen nun, ja, darin liege sogar eine Beleidigung der Muslime. Dagegen gab sich die Kandidatin unbeirrt und sicher, dass auch die Muslime des Landes ein solches Gesetz befolgen würden.
Derweil kündigte Macron in Saint-Denis bei Paris erneut eine Steigerung der finanziellen Unterstützung für die Banlieues an. Diese Investitionen in die Ausbildung der dort lebenden Jugendlichen gelten seit vielen Jahren als Fass ohne Boden, während die Landgemeinden nicht von ähnlichen Mitteln profitieren können.
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