Tichys Einblick
Lenins langer Schatten

Polen wählt: Richtungsentscheidung für EU und Antifa oder gegen?

Anders als im Westen konnten polnische Gesetzeshüter bislang jeglichen radikalen Organisationen die linken Flügel stutzen. Doch die letzten Ereignisse in den USA verleiteten auch in Polen einige unbelehrbare Sozialisten dazu, erneut die Stimmung auszuloten. Von Wojciech Osiński.

imago Images/Zuma Wire

Die durch den Tod von George Floyd weltweit ausgelöste Protestwelle schwappt nun langsam auf Polen über, wobei auch hier solche Ereignisse inzwischen gern mal von radikalen Gruppen politisch missbraucht werden. Zwar haben die „antirassistischen“ Manifestationen bei uns noch nicht das Ausmaß eines Flächenbrands erreicht, dennoch hat der Linksextremismus am Weichselufer schon längst Wurzeln geschlagen. Die polnischen „Antifaschisten“ knurren noch ganz leise, werben jedoch um deutlich mehr Aufmerksamkeit, wenn beispielsweise der nächste Urnengang bevorsteht. Glücklicherweise werden in Polen terroristische Organisationen weder von der Politik noch von den Gewerkschaften gefördert. Die polnische Gesellschaft hat jahrzehntelang unter sowjetischer Okkupation gelitten und daher ein feines Gespür für semantische Täuschungen entwickelt.

Vor den Präsidentschaftswahlen halten linke Kandidaten jedenfalls mit offenen Sympathiebekundungen für die Antifa-Bewegung hinter dem Berg, weil sonst auch ihre letzten Wähler weglaufen würden. Die von der EU mitfinanzierte Linke hat es in Polen ohnehin sehr schwer. Der Präsidentschaftskandidat Robert Biedroń, der sich von westlichen Medien bereits vorzeitig zum „polnischen Macron“ krönen ließ, irritiert heute seine Wähler mit realitätsfernen Postulaten und landet in den aktuellen Umfragen bei gerade mal drei Prozent. Nichtsdestotrotz finden sich auch in Warschau immer wieder linke Chaoten, die ihre Spuren auf Denkmälern hinterlassen müssen. 

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Die Antifa ist in der hauptstädtischen Landschaft seit Jahren präsent und erfährt vor allem dann großen Zulauf, wenn nationale Feierlichkeiten oder historische Gedenktage anstehen. Linksterroristen lassen beispielsweise keine Gelegenheit aus, um den Unabhängigkeitstag am 11. November als „faschistisch“ zu brandmarken. In die gleiche Kerbe schlagen übrigens auch schon prominente Persönlichkeiten, die hin und wieder als politische Arme der Antifa fungieren. Der EU-Abgeordnete Guy Verhofstadt bezeichnete 2017 den Warschauer Unabhängigkeitsmarsch, an dem alljährlich unzählige Familien aus dem ganzen Land teilnehmen, als eine „Ansammlung von Faschisten“. Nun gehört der frühere belgische Premier nicht gerade zu jenen Politikern, die ihre Aussagen auf Falltüren abklopfen. Da ihm aber in einer tendenziösen Berichterstattung überproportionale Aufmerksamkeit zuteil wurde, glaubt jetzt die halbe westliche Welt, dass die polnische Straßen an jedem Nationalfeiertag von Skinheads belagert werden. Dabei ist es vor allem die Antifa-Bewegung, der bei solcherlei Anlässen „gewöhnliche“ Sabotageakte nicht mehr ausreichen.

Überregionale Bekanntheit erlangten polnische Linksradikale im Jahr 2011, als sie mit der Unterstützung von ausländischen Gleichgesinnten an eben jenem Unabhängigkeitstag wehrlose Personen verletzten und anschließend in den Redaktionsräumen einer linksradikalen Zeitschrift Zuflucht vor der Polizei fanden. Zum beliebten Angriffsziel „antifaschistischer“ Propaganda werden kurioserweise auch die Jahrestage des Warschauer Aufstands. Folgerichtig seien sogar jene Veranstaltungen als „faschistisch“ zu verurteilen, die der Erhebung gegen den Nationalsozialismus gedenken. Mit derartigen Verfehlungen hätte sich jede andere linke Organisation bereits der Lächerlichkeit preisgegeben. Aber die Antifa stellt zugleich eine reale terroristische Bedrohung dar, die obendrein im Westen eine unheilvolle Verbindung mit der etablierten Politik eingegangen ist, die auch in Polen gern mal die nötigen Schutzschirme öffnet. 

Gewalt und Ikonoklasmus

Anders als in den USA und einigen westeuropäischen Ländern konnten polnische Gesetzeshüter bislang jeglichen Extremisten die linken Flügel stutzen, womit sich eine eindeutige Einstufung der Antifa als Terrororganisation erübrigte. Doch die letzten Ereignisse in den USA verleiteten auch hierzulande einige unbelehrbare Sozialisten dazu, erneut die Stimmung auszuloten. Jedenfalls kam manch einem „fortschrittlichen“ Journalisten in Warschau die Anti-Rassismus-Debatte wie gerufen.

Die Tageszeitung Gazeta Wyborcza, die in den 1990er Jahren noch als Lichtblick der polnischen Pressefreiheit galt und inzwischen zu einem linken Flugblatt verkommen ist, lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass die Demokratie durchaus auch „andere Protestformen“ zuließe. Einige Redakteure der sozialistischen Zeitschrift Krytyka Polityczna behaupten gar, Gewalt und Ikonoklasmus seien gerechtfertigt, sofern sie die „demokratische Debatte beleben“. In dem Zusammenhang werden schier groteske Vergleiche mit den Revolten von 1968 bemüht, obgleich die Beweggründe für den „polnischen März“ ganz andere waren. Erhoben sich die Studenten damals gegen die kommunistischen Machthaber, so wollen die heutigen Linksradikalen ausgerechnet Lenins Gehilfen auf die leergeräumten Sockel heben.

Gelsenkirchen
Erste Lenin-Statue in Westdeutschland
Auch die katholische Kirche, die sich in der Vergangenheit wiederholt als heilsames Gegengift zum marxistischen Gedankengut erwies, muss heute als Feindbild der Antifa-Banditen herhalten. Es gibt aber noch weitere Unstimmigkeiten im gegenwärtigen Begeisterungssturm der polnischen „Linksausleger“: In einem Land wie Polen, das nach wie vor kein klassisches Einwanderungsland ist, kann es kaum rassistisch motivierte Polizeigewalt geben. Dennoch wollen es sich einige Verschwörungstheoretiker nicht nehmen lassen, nun die gesamte polnische Kultur einer „antirassistischen“ Überprüfung zu unterziehen. Sogar das Werk des Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz musste zuletzt kritisch betrachtet werden, weil in einem seiner Romane farbige Protagonisten auftauchen.

Publizisten aus dem Dunstkreis der Krytyka Polityczna vergleichen hingegen die Plünderer aus den USA mit polnischen Freiheitskämpfern aus dem 19. Jh., womit sie die These untermauern wollen, die gegenwärtige Protestwelle habe neben den Studentenunruhen noch weitere Anknüpfungspunkte in der Geschichte Polens. Dass in Warschau und Washington zuletzt auch die Denkmäler des polnischen Aufständischen Tadeusz Kościuszko verwüstet wurden, der in seiner Heimat um politische Unabhängigkeit und in den Vereinigten Staaten für die Abschaffung der Sklaverei gekämpft hatte, wurde dabei kurzerhand ausgeblendet. Doch auch in diesem Kontext haben sich „Linksintellektuelle“ mit geeigneten Argumenten munitioniert. „Manche Denkmäler müssen für das Wohl der Demokratie zerstört werden, denn nur auf diese Weise lassen sich soziale Gegensätze aufzeigen“, meint der Journalist Jakub Majmurek. 

Die auf die Linie gebrachten Redakteure bedienen sich erhabener Worte, bei näherem Hinsehen erinnern ihre letzten Tabubrüche jedoch eher an den Expansionsdrang der Bolschewisten. Legitimierung von Diebstahl und Gewalt hat jedenfalls nichts mit Demokratie zu tun. 

Bei allen Unterschieden zwischen Polen und den USA wird aber dennoch eine bestimmte Analogie erkennbar. In beiden Ländern ist gerade Präsidentschaftswahlkampf und einige politische Gruppierungen benutzen die Anti-Rassismus-Debatte als Keule, welche die amtierenden Staatschefs aus ihren Büros jagen soll. Nicht umsonst ist Polens Präsident Andrzej Duda kurz vor den Wahlen noch einmal nach Washington gereist, um sich der Unterstützung des US-Präsidenten zu versichern und damit auch bei seiner Stammwählerschaft zu punkten. Haben die amerikanischen Demokraten und deren linke Splittergruppen den Hauptverantwortlichen allen rassistischen Übels im Weißen Haus ausgemacht, so behauptet auch die polnische Opposition, Duda setze derzeit sein Land in Brand und wolle seinen Wahlsieg mit einem „homophoben“ Endspurt erringen. 

Ausgeburt linker Fantasie

Das Etikett des „Faschisten“ eignet sich für alle vermeintlichen Feinde, die der Linken den Weg zum politischen Monopol versperren. Dumm nur, dass Andrzej Duda gar kein Homophob ist. Als der amtierende Staatspräsident im April den homosexuellen Rechtswissenschaftler Kamil Zaradkiewicz an die Spitze des Obersten Gerichts berief, war die Linke vollends konsterniert, weil es offensichtlich in Polen doch Schwule gibt, die sich nicht gleich mit regenbogenfarbenen Federn schmücken. Die in den westlichen Medien kursierenden Gerüchte über sog. „LGBT-freie Zonen“ sind ebenfalls als Ausgeburt linker Phantasie zu werten. Es stimmt, die Chefetage der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) spricht sich gegen gleichgeschlechtliche Ehen aus, aber welche konservative Partei in Europa tut das nicht? Nichts anderes steht auch in der polnischen Verfassung, in derselben, auf die sich der homosexuelle Präsidentschaftskandidat Robert Biedroń beruft, wenn er gerade einmal wieder gegen die Justizreform der PiS zu Felde zieht (natürlich ohne genau zu unterstreichen, gegen welche Paragraphen sie verstößt). Mit Provokation kann man im polnischen Wahlkampf augenscheinlich immer noch mehr erreichen, als mit simulierter Bürgernähe. Vor den Wahlen am Sonntag versucht die Opposition daher nur noch mehr Öl ins mediale Feuer zu gießen und die Schlagzeilen-Schlagzahl zu erhöhen, wenngleich der Wahrheitsgehalt der erhobenen Vorwürfe äußerst zweifelhaft ist. 

Kommunistische Kontinuität
Linkspartei feiert Lenins Geburtstag
Als polnischer Garant links-liberaler Weltordnung gilt derzeit vor allem Warschaus Stadtpräsident Rafał Trzaskowski, wobei alle regierungskritischen Lager sich inzwischen darauf verlegt haben, den PO-Politiker in einer eventuellen Stichwahl mit Duda zu unterstützen. Wenn Trzaskowski gewänne, wird von ihm allerdings kein bleibender historischer Fußabdruck bleiben. Ähnlich wie sein Mentor Donald Tusk ist er ein Konjunkturalist, der die einst als „christdemokratisch“ konzipierte Bürgerplattform so weit in die Mitte gerückt hat, dass sie überhaupt nicht mehr von der linken Konkurrenz zu unterscheiden ist. In dem Machtkampf um den Präsidentenpalast geht es also letztlich weniger um Homo-Ehen, wohl aber um zwei völlig unterschiedliche Zukunftsvorstellungen von einem modernen Staat und seiner Geschichtspolitik.

Für viele Polen wurden bestimmte Warnzeichen bereits im Jahr 2018 sichtbar, als Trzaskowski in das Warschauer Rathaus einzog. In dieser Zeit kam es in der Hauptstadt zu höchst fragwürdigen Straßenumbenennungen, die zum Teil kommunistischen Namenspatronen den Vorrang gewährten. Auch im Präsidentschaftswahlkampf unterstützen den PO-Vize zweifelhafte Personen, die man noch aus dem Schwarz-Weiß-Fernsehen der Volksrepublik kennt und die beiläufig von jeglichen Sünden losgesprochen wurden. Noch mimt Trzaskowski nur den gemäßigten PiS-Kritiker, doch nach einer gewonnenen Wahl könnte auch bei ihm wieder der Beißreflex einsetzen, der eine konstruktive Zusammenarbeit mit der PiS-Regierung behindern dürfte. Einen bitteren Vorgeschmack auf ein solches disharmonisches Szenario bieten bereits die gelegentlich ausufernden Diskussionen zwischen den beiden Kammern des polnischen Parlaments: Im Sejm verfügt die PiS zwar noch über die absolute Mehrheit, aber der von der Opposition dominierte Senat (wie ist das in einem „totalitären“ Staat überhaupt möglich?) zögert fast jeden legislativen Prozess unnötig hinaus. Eines steht jedenfalls fest: Trzaskowski wäre Brüssels Mann in Warschau. Und auch die polnische Fraktion der Antifa könnte wieder aufatmen.

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