Zwischen den einstigen europäischen Supermächten Polen und Ungarn wechselten in den vergangenen Jahrhunderten Phasen von Anziehung und Abgrenzung. Exklusionsmodelle kamen vor allem dann zum Einsatz, wenn es an den Grenzen zwischen Orient und Okzident zu politischen Machtverschiebungen kam. Bedrohten polnische Expansionstendenzen noch an der Wende zum 16. Jahrhundert die ungarische Souveränität, so stellte am Ende des 18. Jahrhunderts die von Budapest mitverursachte Teilung der Adelsrepublik ein erstes Indiz für den Machtverfall Warschaus dar. Anschließend kamen dies- und jenseits der Donau diverse kompensatorische Diskursstrategien auf.
Nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie und der Proklamation der Zweiten Polnischen Republik im Herbst 1918 pflegten die Regierungen in Warschau und Budapest nüchtern-pragmatische Beziehungen. Als besonders folgenreich erwies sich allerdings die Annäherung Ungarns an das nationalsozialistische Deutschland. Die spannungsvoll ambivalente Grundfigur der polnisch-ungarischen Beziehungsgeschichte im 20. Jahrhundert ist aber vor allem die gemeinsame Zugehörigkeit zur sowjetischen Einflusszone.
Nach der Konsolidierung der stalinistischen Parteidiktatur gehörten Unterdrückung und Verbannung zum festen Bestand der Regierungspraxis in Moskau. Trotzdem ging von der Sowjetunion noch lange Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine starke Anziehung auf westliche Intellektuelle aus, was die darüber erstaunten Polen und Ungarn nur noch näher zusammenrücken ließ. Im Bewusstsein der Fragilität ihrer Macht sowie zivilisatorischen Unterlegenheit setzten die Sowjets von Beginn an auf physische Gewalt. Die gemeinsame kränkende Erfahrung der Deklassierung durch Moskau entlud sich während der Aufstände in Posen und Budapest (beide 1956), die auf die auffälligen Anzeichen einer polnisch-ungarischen Fraternisierung verwiesen.
Einige strukturelle Parallelen sprechen dafür, dass sich diese Inklusionskonzepte auch im Hinblick auf die Bildung einer strategischen Allianz in der Europäischen Union ausgezahlt haben. Besonders dann, wenn die polnische Regierungspartei PiS und die von Viktor Orbán angeführte Fidesz-Regierung kritische Positionen gegenüber Brüssel vertraten. Beiden Regierungen wirft die EU wiederum seit Jahren Verstöße gegen „rechtsstaatliche Prinzipien“ vor, kurioserweise immer dann, wenn die Föderalisierungspläne der europäischen Linken im Papierkorb zu landen drohen.
Interessant ist indessen die Wandelbarkeit der Diskursstrategien der Entscheidungsträger in Budapest, wenn der russische Konkurrent durch erneute Territorialgewinne dem westeuropäischen Raum näher rückt und damit die Machtbalance in unserer Region spürbar verändert. Obgleich Polen und Ungarn in den Jahren 1945 bis 1989 gemeinsam eine schmerzhafte historische Wegstrecke zurückzulegen hatten, herrscht spätestens seit dem Ukraine-Konflikt Uneinigkeit bezüglich einer klaren Haltung gegenüber Russland. Und dies trotz der Tatsache, dass die gegenwärtige Kriegsführung des Kremls kaum vom sowjetischen Zivilisationstypus abweicht, der sämtliche grundsätzliche Vereinbarungen und Traditionslinien außer Kraft gesetzt hatte.
Während die politischen Akteure in Polen also seit Jahren das Ziel verfolgen, sich von der Energieversorgung durch Moskau unabhängig zu machen, ging Ungarn nur allzu gern auf die günstigen Angebote Wladimir Putins ein. Eine spürbare Abkühlung erfuhren die polnisch-ungarischen Beziehungen bereits nach der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim im Jahr 2014. Schon damals weigerte sich Budapest, die Bedrohungswahrnehmung Warschaus zu teilen. Andererseits war Orbán aber stets darum bemüht, während der Drei-Meeres-Konferenzen einen guten Eindruck zu hinterlassen. Das Wirtschaftsforum aus zwölf ost- und südosteuropäischen Staaten, die sich von der Ostsee bis zur Adria erstrecken, ist allerdings weitaus mehr als nur ein Gegenentwurf zu den Gasgeschäften mit Russland. Auch hat sich der ungarische Ministerpräsident mehrfach vom Kremlchef distanziert und dessen Angriffskrieg scharf kritisiert.
Die Annahme eines ungarischen Passes bedeutete also zugleich den Verzicht auf die ukrainische Staatsangehörigkeit, was zusätzliches Öl in das im Alltagsleben entfachte Feuer goss. Die Bevölkerung in Zakarpacie durfte zwar nun bequem und ungehemmt innerhalb der EU reisen, wurde jedoch in der Ukraine von elementaren Rechten abgeschnitten. Während also Polen nach 1989 einen Prozess der steten Annäherung und Aussöhnung mit der Ukraine anstrebte, bestimmte die ukrainisch-ungarischen Beziehungen eine permanente Dialektik von Einschluss und Ausschluss. In dieser Dynamik konnte Russland natürlich sein eigenes (ebenso raffiniertes wie infames) Spiel mit psychologischen Exklusionsmechanismen fortführen.
Jedenfalls hatten wir es hier mit zwei diametral entgegengesetzten Ausgangssituationen im Verhältnis Polens und Ungarns zur Ukraine zu tun, aus denen sich heute immer neue Varianten ableiten lassen. Trotz eines gemeinsamen Platzes auf der Brüsseler Anklagebank haben die Regierungen in Warschau und Budapest also derzeit eine Vielzahl an völlig unterschiedlichen Instabilitäten und Risiken zu bewältigen. Es wird gewiss eine Zeit kommen, in der sich Ungarn aus der energiepolitischen Umklammerung Russlands zu lösen vermag und den Beziehungen zu Polen wieder eine völlig neue Wendung gibt.