Zwei Gespenster gehen um in Europa – Polen und Ungarn. In Brüssel, Straßburg und Berlin wird das jüngste Veto der Regierungen in Warschau und Budapest als Fanfare genutzt, um wieder einmal den „nationalen Egoismus“ der rücksichtslosen „Autokraten“ aus Ostmitteleuropa zu betonen und sie prompt auf die Anklagebank zu verweisen. Die meisten westeuropäischen Medien beweinen das „fragile Gebilde“ der Europäischen Union, in dem „nationalistische“ Interessen vorherrschen. Dieser Satz ist zugegebenermaßen nicht einmal falsch, allerdings nur bis zur Hälfte.
Die EU ist heute tatsächlich zu einer fragilen Gemeinschaft verkommen. Die Frage ist nur, ob Polen und Ungarn dafür verantwortlich sind. Die unlängst im scharfen Licht hervorgetretenen Risse existierten auch schon vorher. Andererseits muss man wirklich neidlos anerkennen, dass der Plan der Brüsseler Bürokraten überaus raffiniert war. Den EU-Aufbaufonds, der unseren Kontinent aus der misslichen Corona-Lage befreien soll, mit einem „Rechtsstaatsmechanismus“ zu verknüpfen, ist mehr als ausgeklügelt (wenn auch zynisch). Der unkundige Leser im Westen gewinnt nun endgültig den Eindruck, dass die Regierungschefs aus Polen und Ungarn zwei verirrte „Nein-Sager“ seien, die in ihrem „nationalistischen“ Trotz sogar so weit gehen, dass sie die Auszahlung der dringend benötigten Hilfen Corona-Hilfen blockieren.
Als der deutsche Außenminister Heiko Maas nach dem heutigen Treffen mit seinem palästinensischen Amtskollegen Riyad al-Maliki gefragt wurde, was er von Morawieckis und Orbáns Veto hielte, entgegnete er ganz diplomatisch: „Es wäre nicht intelligent, wenn ich jetzt sagen würde, was ich darüber denke“. In die gleiche Kerbe schlug der CSU-Politiker Manfred Weber. Der Fraktionsvorsitzende der EVP meint, der Rechtsstaatsmechanismus sei „neutral“ und „keineswegs gegen Polen oder Ungarn ausgerichtet“. Natürlich nicht. Manch ein EU-Politiker glaubt nun gar den handfesten Beweis erbracht zu haben, dass die beiden Herren aus Warschau und Budapest sich mit ihrem Veto persönlich zu rechtsstaatlichen „Verfehlungen“ bekannt haben. Die europäische Linke fragt: „Wenn Orbán und Morawiecki nachdrücklich betonen, sie verstießen nicht gegen die demokratische Grundordnung, weshalb haben sie denn ein Problem mit dem Rechtsstaatsmechanismus?“. Um es mit den Worten des Bundesaußenministers auf eine diplomatische Formel zu bringen: Es wäre wohl nicht intelligent, die wortreichen Kaskaden einiger EU-Politiker als tristes Schauspiel zu bezeichnen. Ich tue es trotzdem.
Wenn man aber genauer hinschaut, halten sich Warschau und Budapest an alle Normen, die in den EU-Verträgen verankert sind. Darin wird allerdings das Experiment eines „Rechtsstaatsmechanismus“ mit keinem einzigen Wort erwähnt. Wer verstößt denn nun gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung? Wer versklavt hier wen? Wenn Morawiecki und Orbán nicht eingeschritten wären, könnten die auf Linie gebrachten Neomarxisten in Brüssel ihre willkürliche Interpretation auf sämtliche Bereiche der Gesetzgebung ausweiten und fortan alles mit dem willkürlichen Etikett „Rechtsstaatsverletzung“ bekleben, was ihnen gerade nicht in die schmalen Parteibücher passt: Schulwesen, Familie, Sexualität, Religion, Medien. Polen und Ungarn haben auch im Sinne anderer EU-Staaten gehandelt. Einige Medienvertreter wundern sich und behaupten, es sei „erschreckend“, dass die Regierenden in Warschau und Budapest bei jedem Wahlgang die Mehrheit der Bevölkerung hinter sich bringen können. Nun, vielleicht sind diese Menschen einfach nur intelligent genug, um zu beschreiben, was sie erkennen.