Seit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine ist eine Verbesserung der bilateralen Zusammenarbeit zwischen Warschau und Moskau in noch weitere Ferne gerückt. Polen und Russland verbindet eine spannungsreiche Beziehungsgeschichte, die aus heutiger Sicht mehr als 600 Jahre umfasst. Die gemeinsame Zugehörigkeit zur Slavia wurde schon früh durch die konfessionelle Spaltung überlagert. Seit dem 10. Jahrhundert verstand sich Polen als Teil des lateinisch-katholischen Europa, in dem Rom den Ton angab und die Marschrichtung bestimmte. Russen und andere ostslawische Völker orientierten sich indessen an Byzanz und wählten das Kirchenslawische als Liturgiesprache.
Der Machtverfall der Kiewer Rus im 13. Jahrhundert ging mit dem Aufstieg des polnisch-litauischen Großreichs einher, das schon damals föderale Elemente einer Republik aufwies. In der Epoche der Renaissance erlebte die „Rzeczpospolita Obojga Narodów“ ihre politische und wirtschaftliche Blütezeit. Die polnische Literatur des 16. Jahrhunderts erreichte mit den Texten von Jan Kochanowski und Mikołaj Rej europäisches Niveau und inspirierte auch viele Kulturschaffende, die sich der ostslawisch-orthodoxen Kirchentradition verpflichtet fühlten. Im Dunstkreis des russischen Zaren hingegen wurde die polnische Latinität mit Argwohn betrachtet und als eine Bedrohung für die Moskauer Autokratie empfunden. Die „Lubliner Union“ fungiert in Russland bis heute als historisches Feindbild: Der alljährlich am 7. November begangene „Tag der Einheit des Volkes“ erinnert an die Befreiung Moskaus von polnischer Besatzung im Jahr 1612. Nach dem Ende der Rurikiden-Dynastie waren die Antagonismen zwischen der polnischen Adelsrepublik und dem Moskauer Reich bereits voll ausgeprägt. Zur russischen Staatsräson gehörte schon damals eine permanente territoriale Expansion, die das Ziel der Wiederherstellung des ostslawischen Imperiums verfolgte. Daran hat sich bis heute nicht sonderlich viel geändert. Die Flexibilität der Grenzen Russlands führte zu wiederholten Kolonisierungsschüben in benachbarten Gebieten.
Mickiewicz entwickelte in Frankreich einen neuen Zivilisationsbegriff. Die westliche Kultur sollte sich vor allem am christlichen Ideal der Opferbereitschaft ausrichten. Als Vorbild diente seiner Ansicht nach insbesondere sein Heimatland Polen, das durch den Leidensweg der Teilungen zum „Christus unter den Völkern“ geworden war – im Gegensatz zu Russland, das nach dem Novemberaufstand in der polnischen Exilliteratur vorwiegend als die Ausgeburt des Bösen dargestellt wurde. Dennoch erfuhr die russische Kultur zu dieser Zeit Hochkonjunktur. Bekannte Romanautoren wie Fjodor Dostojewski und Lew Tolstoi eroberten die Herzen der westlichen Leserschaft, obgleich andere Russen die zivilisatorischen Defizite des Zarenreichs bereits klar benannt haben. Der Philosoph Pjotr Tschaadajew machte die orthodoxe Kirche für die Kluft zwischen Westeuropa und seinem Land verantwortlich, die lediglich durch dessen Abkehr von der byzantinischen Tradition überwunden werden konnte. Von einer „kulturellen Rückständigkeit“ Russlands schrieb ebenfalls der Schriftsteller Alexander Herzen. Auch er hat sich für den Eintritt seines Landes in den Wirkungskreis des römisch-katholischen Christentums eingesetzt. Daher war es nicht besonders erstaunlich, dass der Zarenhof mit drakonischer Strenge gegen sie vorging.
Für die Polen war der Januaraufstand von 1863 die zweite wichtige Zäsur im 19. Jahrhundert und zugleich der letzte Versuch vor dem Ersten Weltkrieg, die staatliche Souveränität auf eigene Faust wiederzuerlangen. Auch diese Erhebung wurde von den Russen niedergeschlagen, was die gegenseitigen Animositäten verstärkte. Zeitnah gab es jedoch auch Versuche der politischen Annäherung. Der katholisch geprägte Nationaldemokrat Roman Dmowski, einer der Gründungsväter der Zweiten Polnischen Republik, setzte an der Wende zum 20. Jahrhundert auf ein Bündnis mit Russland, da er im wilhelminischen Kaiserreich den gefährlicheren Gegner vermutete. Aber auch für ihn bestanden keine Zweifel daran, dass die Restitution Polens in den Grenzen von 1772 eine legitime Forderung war – notfalls ohne die Einwilligung des Zaren. Diese Entspannungspolitik verlor sowieso jeglichen Sinn, als aus der Revolution Wladimir Lenins eine Kultur der Gewalt hervorging. Dmowski und dessen Anhänger verabscheuten den Bolschewismus.
Nach den Gräueln des Zweiten Weltkrieg ebbten die Gewaltexzesse zwar etwas ab, das von den Nazis und Sowjets zermalmte Polen fand sich unterdessen erneut in der Einflusssphäre Moskaus wieder. Die überwältigende Mehrheit der Polen lehnte aber die Idee einer Konversion zum Kommunismus ab. Nach 1945 galten Patriotismus und Katholizismus nach wie vor als Fundamente der nationalen Selbstbehauptung. Dieser schon in der Teilungsära herausgebildete Wertekanon erschwerte erheblich die Aufgabe des von Stalin entsandten PZPR-Generalsekretärs Bolesław Bierut, der seine Landsleute „umerziehen“ sollte. In der Volksrepublik kam es zu mehreren Aufständen, u.a. in Posen (1956), Warschau (1968), Gdańsk (1970) und Radom (1976). Die 1980 entstandene Gewerkschaftsbewegung Solidarność ebnete nicht nur den Weg für ein Ende des Eisernen Vorhangs, sondern war zudem Speicher und Archiv, übernahm bedeutende Funktionen des kulturellen Gedächtnisses. Der ein Jahr später von Wojciech Jaruzelski ausgerufene Kriegszustand konnte den Zerfall der Sowjetunion nicht mehr aufhalten.
Für Russland war der Übergang zum Kapitalismus nicht gerade einfach. Nach dem Kollaps des Warschauer Paktes und der wirtschaftlichen Krise in den 1990er Jahren entfiel die Basis für eine russische „Supermachtrolle“, obschon sich der Kreml bis heute von der Idee des Imperiums nicht zu lösen vermag. Eine der wichtigeren Streitfragen zwischen Warschau und Moskau war in dieser Zeit zweifelsfrei die Sicherheitspolitik. Polen wollte schnellstmöglich der Nato beitreten, wogegen Moskau offen protestierte. Seit Jahren belastet die polnisch-russischen Beziehungen ebenso der unterschiedliche Stellenwert, den beide Seiten der Geschichte zuweisen. Dazu zählt u.a. die diametral entgegengesetzte Bewertung der Annexion der polnischen Ostgebiete auf der Grundlage des Hitler-Stalin-Paktes. Das Beharren auf dem Mythos des Großen Vaterländischen Kriegs, der aus russischer Sicht andere Länder „erlöst“ habe, gehört für Wladimir Putin nach wie vor zu einer Legitimationsstrategie, die auch den Angriffskrieg in der Ukraine rechtfertigen soll.
Auf die polnischen Forderungen nach einer vollständigen Aufklärung des Massakers von Katyń, bei dem im Frühjahr 1940 tausende polnische Offiziere vom Geheimdienst NKWD hingerichtet wurden, reagiert die russische Regierung mit hartnäckigem Schweigen. Im März 2005 beendete die Militärstaatsanwaltschaft in Moskau eine diesbezügliche Untersuchung und sperrte den Großteil der einschlägigen Dokumente für die Öffentlichkeit. Diese Differenzen bestimmten gleichfalls die Gedenkfeiern zum 70. Jahrestag des Beginns des Zweiten Weltkriegs auf der Danziger Westerplatte. Im September 2009 warnte der damalige polnische Staatspräsident Lech Kaczyński Russland vor der „Versuchung, historischen Unwahrheiten zum Durchbruch zu verhelfen“. Ein Jahr später kam es im russischen Smolensk zu einer Tragödie, die noch lange einen Schatten auf die gemeinsamen Beziehungen werfen wird. Auf dem Weg zu einer Gedenkveranstaltung in Katyń am 10. April 2010 stürzte ein polnischer Regierungsflieger ab. 96 Menschen starben, darunter Staatschef Kaczyński. In Polen konnte man sich nicht des Eindrucks erwehren, dass die russische Seite ein infames Spiel führte, welches eine genauere Aufklärung der Flugkatastrophe erschwerte.
Trotz des militärischen Säbelrasselns verfügt die Russische Föderation nicht mehr über das Potential, um nennenswerten Druck auf Polen auszuüben. Durch die Inklusion Polens in die transatlantische Verteidigungsallianz der Nato gelang es dem ostmitteleuropäischen Land, seine Grenzen einigermaßen zu sichern. Für zusätzliche Stabilität sollte auch die seit 2004 andauernde Zugehörigkeit zum Wirtschaftsraum der EU sorgen. Die Stellung Polens innerhalb dieser Gemeinschaft wird allerdings von Regierung und Bevölkerung zunehmend kritisch gesehen. Der Wunsch nach größerer Unabhängigkeit in Europa ist inzwischen größer als die Angst vor Moskau.
Wojciech Osiński ist Deutschland-Korrespondent des Polnischen Rundfunks