Tichys Einblick
Zum 77. Gedenktag des warschauer aufstands

Polen und Israel: Das lukrative Geschäft mit Geschichte

Die polnisch-jüdischen Beziehungen wurden in den letzten Jahren einigen Turbulenzen ausgesetzt. Eines ist klar: Es schwirren in diesem Diskurs noch sehr viele Fehlinformationen herum – vor allem auch in den westlichen Medien.

Adam Niescioruk

Die polnisch-jüdische Beziehungsgeschichte ist voller Missverständnisse. Noch heute wird in den USA oder Westeuropa gern mal der Warschauer Aufstand von 1944 mit dem Warschauer Ghettoaufstand von 1943 verwechselt. Vielleicht auch deshalb, weil Polen und Juden damals am gleichen Ort denselben Feind hatten – Nazideutschland. Umso trister ist die bei jedem Weltkriegsgedenken in Gang gesetzte Spirale der gegenseitigen Nadelstiche. Im Vorfeld des 77. Jahrestags des Warschauer Aufstands fehlte es augenscheinlich wieder nicht an Gelegenheiten, um die Opfer des Dritten Reichs gegeneinander auszuspielen. 

In den letzten Jahren häuften sich die diplomatischen Unstimmigkeiten zwischen Polen und Israel. Zum Auslöser eines politischen Erdbebens, das auch in den US-amerikanischen Seismographen auf Empfindlichkeit getrimmt hatte, wurde 2018 eine von der polnischen PiS-Regierung vorgeschlagene Gesetzesnovelle, die für historisch falsche Bezeichnungen wie „polnische Todeslager“ hohe Strafen vorsah. Tatsächlich erscheinen solcherlei legislative Schritte unumgänglich, wenn sogar in New York und Washington hochrangige Entscheidungsträger die nationalsozialistischen Vernichtungslager gelegentlich mit dem Attribut „polnisch“ versehen. Auch der frühere US-Präsident Barack Obama verwendete 2012 allen Ernstes die Formulierung „polish death camps“ – ausgerechnet bei der Ehrung des polnischen Weltkriegsveterans, der in den 1940ern die westliche Welt (vergeblich) über den Holocaust zu informieren suchte. Ein unverzeihlicher Schnellschuss oder nur ein skandalöser Lapsus? Wie dem auch sei – er passt zu der im letzten Jahrzehnt zunehmend beobachtbaren Nachfrage nach einer „polnischen Mittäterschaft“. Nur: Es hat nie eine solche gegeben. 

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Mag dies auch bedauerlich sein, aber einige polnische Historiker müssen gegenwärtig Tatsachen zurechtrücken, die eigentlich jedem Schüler in Europa und Amerika bekannt sein sollten. Im Gegensatz zu anderen vom Dritten Reich okkupierten Ländern hat die polnische Regierung zu keinem Zeitpunkt mit den NS-Besatzern kollaboriert. Es gab im Generalgouvernement nicht wenige Personen, die ihre jüdischstämmigen Landsleute denunzierten, wobei man mit derartigen Vergleichen vorsichtig umgehen und die Proportionen im Auge behalten sollte. Wer heute das Ulma-Museum im karpatischen Dorf Markowa besucht, wird vor allem erfahren, dass Millionen Polen ihr Leben riskierten, weil sie Juden bei sich versteckt hatten. Die polnische Familie, nach der das Museum benannt wurde, hatte damals acht Personen Unterkunft gewährt. Im März 1944 wurden Józef und Wiktoria Ulma, deren sieben Kinder sowie ihre jüdischen Gäste von den Nazis hingerichtet. 

Spätestens an dieser Stelle spitzen die westlichen Redakteure ihre Bleistifte, setzen zum polemischen Gegenschlag an und fragen: „In Ordnung, doch was ist mit Jedwabne?“ Nun, die im Westen kursierenden Informationen über das 1941 angeblich von einer polnischen Gruppe geplante und durchgeführte Massaker an der jüdischen Lokalbevölkerung im Nordosten des Landes beziehen sich vornehmlich auf die Behauptungen, die von dem Publizisten Jan Tomasz Gross in Umlauf gebracht wurden. In seinem 150 Seiten umfassenden und in viele Sprachen übersetzten Buch Nachbarn (2000), dessen Handlung überwiegend von apodiktisch verkürzten Passagen vorangetrieben wird, übergeht der Autor zahllose Fakten, die seine Thesen in Gefahr bringen könnten.   

Der polnisch-amerikanische Soziologe Gross, der mit fundierter Geschichtswissenschaft so viel zu tun hat, wie der aktuelle US-Präsident mit einem Kurzzeitgedächtnis, schreibt, dass die polnischen Einwohner der Kleinstadt Jedwabne ungefähr 1.600 Personen in einer schlichten Scheune verbrennen ließen. Wie sollte dies in dem hier insinuierten Ausmaß an einem solchen Ort umzusetzen sein? Derartige Verbrechen haben sich dort zweifelsfrei zugetragen, ebenso in den benachbarten Dörfern. Und sie sind nicht weniger abscheulich, wenn nach Jahren minutiöser historiographischer Arbeit inzwischen manch eine Theorie falsifiziert wurde (in Jedwabne waren es eigentlich 340 Opfer). Nein, es geht nicht um Zahlen. 

Wir finden in dem Buch Nachbarn noch viele andere Abschnitte, die eine bewusste Ausklammerung handlungslogischer Abläufe signalisieren. So gilt es derweil als erwiesen, dass der Mord von Jedwabne sämtliche Anzeichen einer streng organisierten Aktion trägt, die ausschließlich mit den Mitteln der Besatzer durchgeführt werden konnte. Für diese belegbaren Tatsachen findet sich in dem bündigen Büchlein von Gross allerdings kaum Platz. Ohne erkennbaren Grund werden dem Leser stattdessen skizzenartige Zeitzeugenberichte kommentarlos präsentiert, deren Inhalt weder weiter ausgeführt noch hinreichend erörtert wird. Jegliche Zweifel an der Tragfähigkeit der Gross’schen Erzählung werden unvermittelt mit haltlosen und emotionsgeladenen Vorwürfen überlagert. 

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Eine erschöpfende Analyse dieser Publikation würde hier den Rahmen sprengen. Wer möchte, kann sie gern lesen und dabei den gesunden Menschenverstand einschalten. Hier geht es um die Lösung eines anderen „Knäuels“, nämlich um die Frage, weshalb derlei fragwürdige Veröffentlichungen überhaupt entstehen, anschließend in den akademischen Diskurs geraten und besonders in den Vereinigten Staaten zu „Bestsellern“ werden. Dabei haben einige Geschichtsprofessoren der Columbia University jüngst ein epochales Werk über Jedwabne vorgelegt, in dem die handwerklichen Fehler des Jan Tomasz Gross unbarmherzig bloßgestellt werden.

Dennoch überstrahlen die Nachbarn seit zwei Dekaden sämtliche Expertisen namhafter Historiker. In manchen Kreisen hat das Buch eine Flut von weiteren Artikeln ausgelöst, die das zweifelhafte Narrativ von einer kollektiven polnischen „Mitschuld“ zementieren. Warum? Wenn sogar der geschätzte Diplomat und frühere Knesset-Vorsitzende Schewach Weiss deren Autoren als „wissenschaftliche Hochstapler“ bezeichnet, dann darf man doch fragen: Was ist der eigentliche Sinn und Zweck solcher Publikationen? Warum stören sich an der polnischen Gesetzgebung vornehmlich linke Gruppierungen in den USA, die im Juni 1942 noch sämtlichen Hinweisen auf die Situation der Juden in Europa mit auffälligem Desinteresse begegneten (der jüdische Politiker Szmul Zygielbojm nahm sich deswegen das Leben)? 

Es entspringt jedenfalls nicht dem puren Zufall, dass die Jedwabne-Debatte immer dann kurz aufflackert und wieder erlischt, wenn das legislative Säbelrasseln in Washington, Warschau und Jerusalem losgeht. Im Mai 2018 verabschiedete der Kongress der Vereinigten Staaten das „Gesetz 447“. Ideengeberin des Projekts war eine gewisse Tammy Baldwin vom linken Flügel der Demokratischen Partei, die sich damals über das „Reprivatisierungsgesetz“ des polnischen Justizministers Zbigniew Ziobro empört hatte. Das Gesetz würde die Rechte der in den USA lebenden Juden untergraben, die eventuell einen Anspruch auf Immobilien in der Republik Polen hätten, hieß es. Das von beiden Kammern des US-Parlaments abgesegnete „Gesetz 447“ räumt dem US-Außenministerium das Recht ein, internationalen Organisationen, die Opfer des Holocaust repräsentieren, auf „diplomatischem“ Wege bei der Übernahme von Eigentum ohne Erben zu helfen.

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Mit anderen Worten: Das State Department kann entschiedene rechtliche Schritte einleiten, wenn Länder wie Polen einer „rechtmäßigen Rückgabe“ von Immobilien und Grundstücken entgegenwirken. Konkret: Es geht um Millionen Dollar, die einige dubiose Personen qua Gesetz in Polen „erwirtschaften“ könnten, ohne nachzuweisen, dass sie in der Tat Nachfahren von Holocaust-Opfern sind. Nun wird ersichtlich, weshalb manch einer in den USA historisch sensibel geworden ist und plötzlich weiß, wo Polen auf der Landkarte liegt. Wie heißt es so schön bei Vladimir Nabokov: „Die Entwirrung eines Rätsels ist der reinste Akt des menschlichen Geistes“. Wo Bares im Spiel ist, hat Entspannungspolitik jedenfalls nichts verloren.  

So ist es nicht verwunderlich, dass vor rund drei Wochen die linke Seite des US-Repräsentantenhauses abermals laut wurde, als neue Informationen aus Warschau eintrafen. Anfang Juli hat der polnische Sejm den Verwaltungsverfahrenskodex novelliert. Demnach sollen rechtswidrige Entscheidungen von Behörden, die dreißig Jahre oder länger zurückliegen, nicht mehr für ungültig erklärt werden, sofern auf ihrer Grundlage weitere Eigentumsrechte erworben wurden.

Das Geschäft mit polnischen Immobilien ist im Ausland leider deswegen so lukrativ geworden, weil es vor dem Regierungsantritt der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) im Herbst 2015 gleichsam in einem rechtsfreien Raum abgewickelt wurde. Nach dem politischen Umbruch im Jahr 1989 wurden unzählige Grundstücke an ominöse Geschäftsleute übertragen, die nichts mit den ursprünglichen Eigentümern zu tun hatten. Ein in den 1990er Jahren vorbereitetes Gesetz, das die Rückerstattung enteigneter Immobilien regeln sollte, wurde von dem damaligen Staatschef Aleksander Kwaśniewski abgelehnt, ohne dass alternative Lösungsvorschläge vorgelegt wurden. Dies hatte eine „wilde“ Reprivatisierung zur Folge, die sich jahrelang in einer juristischen Grauzone bewegte und höchst suspekten Organisationen unbegrenzte „Entfaltungsmöglichkeiten“ bot, auf die man selbstredend auch außerhalb der Grenzen Polens aufmerksam wurde. Durch unlängst eingeleitete Ermittlungen wurde eine Vielzahl von weiteren Vergehen offengelegt. Und nun möchte „irgendeine“ polnische Regierung etwas zur Aufklärung solcher Sachverhalte beitragen? Unerhört.

Wie auch immer: Am 77. Jahrestag des Warschauer Aufstands sollten wir uns daran erinnern, dass die polnisch-israelischen Beziehungen eigentlich immer intakt waren. Die Synagogen in Polen bedürfen keiner polizeilichen Überwachung und auch die Vielzahl an anderen jüdischen Organisationen ist eher auf Engagement als auf Intoleranz zurückzuführen. Jegliche Meinungsverschiedenheiten sollten trotzdem in aller Ruhe und komplikationslos ausdiskutiert werden, zumal die eigentlichen Nutznießer diplomatischer Konflikte zwischen Warschau und Jerusalem vornehmlich in anderen Ländern zu suchen sind. 

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