Wohl keiner hat die polnische Politik nach 1989 so sehr geprägt wie Jarosław Kaczyński. Während nicht wenige die Funktion eines Abgeordneten lediglich als Karriereschub betrachten, hat sich der heute 74-jährige niemals eine berufliche Auszeit gegönnt und seine Parteien sowie Fraktionen über die Jahre hinweg zu durchsetzungsstarken Zentren politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung ausgebaut. Es wäre schwierig, seine politische Laufbahn getrennt vom Lebensweg seines 2010 bei Smolensk umgekommenen Zwillingsbruder Lech Kaczyński zu betrachten. Und trotzdem war es vor allem Jarosław, der immer wieder den Ton angab. Er war es, den der Rückfall äußerlicher Demokratie in wirklichen Autoritarismus zum Widerstand motivierte. Diese politische Haltung manifestierte sich bereits 1990 in der Gründung der christdemokratischen Partei Porozumienie Centrum (Zentrumsallianz), die Jarosław Kaczyński dicht mit der polnischen Zivilgesellschaft zu vernetzen vermochte.
Auf diese Weise eroberte er den vorpolitischen Raum und schaffte die Grundlage künftiger Wahlerfolge, ebnete seinem Bruder gar den Weg zur Präsidentschaft. Die im Jahr 2001 von den Zwillingen gegründete Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sollte alle bürgerlich-konservativen Kräfte vereinen. Der doppelte Wahlsieg von 2005 bestätigte die beiden Parteilenker in ihrem Vorhaben, die gesamte Gesellschaft zu organisieren und anzuleiten. Ihr Hauptanliegen bestand darin, die immer noch bestehenden postkommunistischen Seilschaften in der Wirtschaft und dem Justizwesen zu zerreißen. Dieses Reformwerk wurde jedoch durch einen frühen Regierungswechsel unterbrochen. Die vorgezogenen Wahlen von 2007 gewann die Bürgerplattform (PO). Parteichef Donald Tusk behauptete vor seiner Wählerschaft, dass Polen zu einen „geopolitischen Hinterhof“ geriete, sofern Warschau nicht mit Brüssel in allen Belangen mitginge. Wenn die PiS an der Macht bliebe, würde das Land wirtschaftlich bald nur die Rücklichter sehen, so der damalige Oppositionsführer.
Als dann acht Jahre später die PO den Karren an die Wand gefahren hatte, konnte Jarosław Kaczyński endlich die Schaffung eines stabilen politischen Kräftefeldes in Aussicht stellen und die PiS als Kerngeflecht eines neu zu gestaltenden politischen Systems präsentieren. Es sollte eine Fortsetzung des ersten Anlaufs sein und diesmal nicht wieder durch eine jähe Wahlniederlage unterbrochen werden. Bei der Realisierung dieses langfristig angelegten Plans half es sehr, dass kurz zuvor einige fraktionsinterne Gespräche zwischen prominenten PO-Politikern an die Öffentlichkeit durchgestochen wurden. Die Protagonisten gaben zu, dass die miserable Situation in Polen durch ihre törichte Regierungspolitik herbeigeführt und durch wiederholte Lügen beschönigt worden sei, um den Machterhalt zu sichern. Dass nun im Jahr 2024 einige von diesen Personen erneut Ministerposten bekleiden dürfen, ist wohl eine der kuriosesten Pointen der bisherigen Geschichte der Dritten Republik.
Der Wahlsieg der PiS im Herbst 2023 bereitet Kaczyński zweifelsfrei mehr Kopfschmerzen als die Wahlniederlage von 2007. Vor drei Monaten musste er die Macht abgeben, weil seine Partei nicht mehr koalitionsfähig war. Einst machte er sich daran, sie zu einer nachgerade uneinnehmbaren Festung auszubauen. Die Wahlerfolge von 2015 und 2019 sowie die geglückte Wiederwahl von Präsident Andrzej Duda im Jahr 2020 schienen zu belegen, dass seine Rechnung aufgeht. Obgleich in den letzten Jahren die Löhne und Renten erhöht wurden sowie der allgemeine Lebensstandard seit dem Amtsantritt der PiS-Regierung gestiegen war, wird Polen jetzt trotzdem wieder von einer linksliberalen Koalition regiert, für die sich die Urne dereinst als Sarg erwiesen hatte.
Nach der Parlamentswahl im Oktober hatte Kaczyński mehrfach betont, er nähme den Machtverlust „auf die eigene Kappe“. Dieser Schachzug ist raffiniert, weil er verhindert, dass sich die zerstrittenen PiS-Abgeordneten nach dem Gang in die Opposition auf offener Bühne zerfleischen. Vorerst wird sich keiner von ihnen der Fraktionsdisziplin entziehen, die Flügelkämpfe wurden „eingefroren“. Kaczyński unterbindet jedoch durch sein ausgeprägtes „Verantwortungsbewusstsein“ jegliche Weiterentwicklung der Partei. Er täte gut daran, etwas offener mit Veränderungen umzugehen. Sein Schuldeingeständnis ist zwar lobenswert, aber belanglos, denn es bleibt weitestgehend wirkungsfrei.
Statt ein Umdenken einzufordern oder seiner Partei eine personelle Verjüngungskur zu verpassen, drescht der PiS-Vorsitzende immer wieder die gleichen Phrasen. Nach Kaczyńskis Einschätzung ist der Machtverlust der Konservativen nicht auf eine falsche Politik zurückzuführen, sondern auf eine Vielzahl von „Missverständnissen“ und „Kommunikationsmängeln“, die durch ein „feindliches“ Mediensystem und „mangelnde Verankerung“ der PiS in der Gesellschaft verursacht worden seien. Überdies habe sich die Partei nicht hinreichend von anderen Gruppierungen distanziert und dadurch Stimmen verloren. Nein, das Gegenteil ist der Fall: Durch die Distanzierung von anderen konservativen Gruppierungen hat die PiS alle möglichen Koalitionspartner vergrault. Eine ausgebaute Festung versinkt in der Bedeutungslosigkeit, wenn der Hausherr das bastionäre Tor stets verschlossen hält.
Kaczyński muss daher nun auch Kritik aus den eigenen Reihen einstecken. Der ehemalige Landwirtschaftsminister Jan Krzysztof Ardanowski fühlte sich ermutigt, einen Sinneswandel herbeizuführen. Seiner Ansicht nach habe die allzu große Siegeszuversicht der PiS nach acht Jahren Regierungszeit gewisse Unzulänglichkeiten beim Wahlkampfeinsatz nach sich gezogen. Außerdem seien Kaczyński und seine Gefolgsleute völlig unvorbereitet in die Opposition gegangen, reagierten mit Verspätung auf die rechtlich umstrittene Übernahme der staatlichen Institutionen durch die neue Regierung. Das hohe Tempo bei der Tuskschen Gesetzgebung erschwerte, ja verunmöglichte der PiS ausreichende Beratungen und somit eine die Politik begleitende, nicht erst ihr nacheilende parlamentarische Regierungskontrolle. Während die zum erlauchten Kaczyński-Kreis gehörenden Politiker Ardanowskis Appell als einen „ungestümen Tabubruch“ bezeichneten, wird er von anderen Parteikollegen mitgetragen.
Weitaus deutlicher wurden einige Professoren der Jagiellonen-Universität in Krakau, die sich in den letzten Jahrzehnten einen Ruf als konservative „Denkschmiede“ erarbeitet hat. Der allseits geschätzte Historiker Andrzej Nowak veröffentlichte in der Zweimonatsschrift „Arcana“ einen offenen Brief, in dem er Kaczyński dazu auffordert, zurückzutreten und einer jüngeren Generation Platz zu machen, zum Beispiel dem früheren Erziehungsminister Przemysław Czarnek oder dem EU-Abgeordneten und ehemaligen stellvertretenden Justizminister Patryk Jaki. An dem aktuellen Kurs der PiS zweifeln ebenso der „Arcana“-Chefredakteur Andrzej Waśko sowie der Philosoph Ryszard Legutko, der in den vergangenen Jahren im EU-Parlament lustvoll und treffsicher linke Utopien zu dekonstruieren wusste. Zu einer Verjüngung der Partei raten Kaczyński gleichfalls konservative Journalisten, indem sie vor der 2025 anstehenden Präsidentschaftswahl beispielsweise den erst 34-jährigen Danziger Politiker Kacper Płażyński ins Spiel bringen. Auch der renommierte Krakauer Professor Maciej Urbanowski glaubt, dass in der PiS „fundamentales Umdenken“ erforderlich sei. Im Gespräch mit „Tichys Einblick“ unterstreicht er, dass die Partei ansonsten „krachend“ scheitern könnte.
Bereits 2015 hatte Andrzej Nowak dem PiS-Chef geraten, auf jüngere und frische Kandidaten zurückzugreifen. Damals hatte Kaczyński auf ihn gehört, zauberte Andrzej Duda, Beata Szydło und Mateusz Morawiecki aus dem Hut. Und heute? Man gewinnt den Eindruck, dass Kaczyński diesmal kaum von seinen eigenen Überzeugungen abweichen wird. Er und seine engsten Mitarbeiter halten zusammen wie einstmals zu gemeinsamen Studientagen. Wer loyal bleibt, bekommt irgendwann schon die wichtigen Positionen im Staatsapparat und Kulturbereich. Graue Eminenzen am Hofe der Nowogrodzka-Strasse werden dem konservativen Lager jedoch kein neues Leben mehr einhauchen. Kaczyński denkt trotzdem offen über eine Amtsverlängerung an der Spitze der PiS nach, obgleich er vor einigen Monaten versprochen hatte, spätestens 2025 in den verdienten Ruhestand zu gehen. Nach den letzten Ereignissen käme ein vorzeitiger Rücktritt einer „Fahnenflucht“ gleich, glaubt der Parteichef. Kaczyńskis „Standfestigkeit“ bremst den Umgestaltungsprozess, bewahrt aber auch vielleicht die PiS vor dem endgültigen Zerfall. Was wird aus der Partei ohne ihren Gründer? Die Konservativen befinden sich in einer prekären Situation: Jede Lösung scheint derzeit ungeeignet. Anfang April finden in Polen Kommunalwahlen statt. Erst vor einigen Tagen hat die PiS ihren Krakauer Spitzenkandidaten vorgestellt. Er wird verlieren. Die Ersatzbank ist kurz, sogar in der einstigen Königsstadt. Erst im Frühjahr wolle man sich sammeln, meint Kaczyński, um dann bei der Europawahl einen deutlichen Sieg einzufahren. Die Hoffnung stirbt zuletzt.