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Historisches

Polen als Hüter Europas: 1621 bis 2021

Welch bedeutende Rolle Polen in anderer Gestalt als der heutige polnische Staat im Verlaufe der europäischen Geschichte spielte, ist den meisten Zeitgenossen unbekannt. Sonst würden sie besser verstehen, in welcher Tradition Polen unverändert steht.

IMAGO / United Archives International

Chocim in Moldawien erlebt 1621 die bis dahin größte Schlacht des Polnisch-Litauischen Reiches. Sie wird mit Recht als Sieg erinnert, obwohl sie politisch unentschieden ausgeht. Doch dieses Patt wird von rund 50.000 Mann gegen dreimal so viele Osmanen und Mongolen erfochten. Nach dem Tod des Oberbefehlshabers Jan Karol Chodkiewicz ist es der nicht einmal vierzigjährige Stanisław Lubomirski (1583-1649), der das Blatt zugunsten Warschaus wendet. Polens König Sigismund III. Wasa (1566/1587-1632) hatte bereits 1619 dem deutschen Herrscher Ferdinand II. (1578/1619-1637) durch einen Sieg über ungarische Vasallen des Sultans Wien und die Kaiserkrone gerettet.

Ein weitere Ausdehnung des Kalifats wird dadurch zwar vehindert, aber Ungarn bleibt türkisch und das Sultanat wartet nur auf eine neue Gelegenheit. 1672 kann es mit 80.000 Mann Chocim zurückerobern und ganze polnische Provinzen dazu. Gegen Hetman Jan Sobieski (1629/1674-1696) jedoch erleiden die Osmanen 1673 die zweite Niederlage von Chocim.

Die seit 1581 von Habsburg freien Niederlande, deren Handelsflotten im 17. Jahrhundert den globalen Warenaustausch beherrschen, bilden seinerzeit den Seismographen für die Geschicke Europas. Romeyn de Hooghe (1645-1708) – Urvater aller Blogger mit seinen kupferstich-illustrierten zeitkritischen Texten Zeit – , spürt nach Polens neuerlichem Chocim-Sieg, dass der Okzident erstmals unanfechtbar wird. Deshalb verewigt er Sobieski 1674 als Herkules und Retter Europas.

Romeyn de Hooghe, Jan Sobieski als Retter Europas in der Zweiten Schlacht von Chocim von 1673 [Sammlung Heinsohn-Sidorczak].

De Hooghe täuscht sich nicht. 1683 – der römische deutsche Kaiser Leopold I. (1640/-1705) hat sich beizeiten abgesetzt – riskiert Sobieski, seit 1674 Polens König, sein Leben gegen die Wien belagernden Türken. Allein der Name des Polen versetzt sie in Schrecken. Ungeachtet der Bitten seiner immens verehrten französischen Gattin hatte er Ludwig XIV. (1638/1643-1715), der zum Kalifen hält, ein Bündnis abgeschlagen. Erfahrungen mit den Sultanen und ihren Mega-Armeen, die so nur Polen gemacht hatte, verbieten jegliche Gefälligkeit für den Sonnenkönig. Wer Wien hat, wird auch Polen wieder angreifen. Deshalb fallen sein Schutz und die Rettung Europas zusammen. Auch 1683 glänzt ein Kommandeur aus dem Hause Lubomirski. Prinz Hieronim Augustyn (1647-1706), bereits im Juni der Befreier Preßburgs, erreicht als erster die Mauern Wiens.

Die polnischen Siege beenden rund vier Jahrhunderte, in denen der Kontinent in der Angst vor den Bannern Allahs lebt. Das beginnt 1291, als mit Akkon der letzte Kreuzfahrer-Staat besiegt ist, und erlebt einen ersten Höhepunkt mit dem Abschlachten der Griechen Konstantinopels im Jahre 1453. Es endet 1699 mit dem Frieden von Karlowitz zwischen den Osmanen auf der einen, sowie Polen, Venedig, Vatikan, Russland und Habsburg auf der anderen Seite.

Ab 1700 jedoch haben die damals 125 Millionen Europäer nur noch ihresgleichen zu fürchten. Stetig innovativere Technik der Eigentumsökonomie und eine erbarmungslose Verfolgung der Geburtenkontrolle werden zur Basis für die Eroberung der Erde. 1914 stehen mit 500 Millionen viermal so viele Europäer bereit wie 1700. In den drei Jahrzehnten bis 1945 werden rund 70 Millionen Menschen genozidal beseitigt, durch Hunger oder Bomber umgebracht und auf den Schlachtfeldern getötet. Es reicht für alles. Doch mitten im Verheizen von „Menschenmaterial“ und „cannon fodder“ sinken die Geburtenraten ab 1915 um 40 oder mehr Prozent. Sie läuten – lange unbemerkt – den Niedergang des Abendlandes ein.

1919 wird Polen wieder errichtet und umgehend von bolschewistischen Truppen attackiert. 1920 werden sie vor Warschau zurückgeschlagen, so dass auch Deutschland und der Westen erst einmal sicher sind. Doch der Frieden mit den Sowjets von 1921 bleibt so haltlos wie das Abkommen mit den Türken von 1621. Der nächste russische Angriff erfolgt September 1939, als Hitler-Deutschland mit der Ausrottung der polnischen Intelligenz seine Völkermorde begonnen hat.

Nach 1970 fallen Europas Geburtenraten – zuerst in Westdeutschland – unter die Selbsterhaltung von 2,1 Kindern pro Frauenleben. Zugleich werden alle Kriege in den Kolonien verloren, wo man drei- bis viermal höhere Geburtenraten schafft. Hat Europa 1914 von global 1.000 wehrfähigen Männern (15-29 Jahre) rund 330 und dazu die effektivsten Waffen, so hängt die Zukunft der Europäischen Union 2021 an rund 34 Kindern von weltweit 1.000 Gleichaltrigen (0-14 Jahre). Allein in Afrika und dem arabischen Raum sind es 315. Von den EU-Kindern leben sechs in Deutschland und drei in Polen. Auch zusammen könnten sie für die enormen Zahlen an der Gegenküste kaum etwas ausrichten. Schließlich müssen sie erst einmal die Konkurrenz mit Ostasiens Musterschülern (150/1000) bestehen (zu den Kinderanteilen siehe https://data.worldbank.org/indicator/SP.POP.0014.TO).

2015 verkündet Berlin, dass Durchbrecher europäischer Grenzen nicht abgewehrt werden können. Im November desselben Jahres wird der Autor von einem seiner Studenten am NATO Defense College in Rom hart angefahren. Der Oberst der Royal Air Force will lautstark wissen, warum Deutschland den Kontinent schon wieder ins Verderben stürze. Der Offizier hatte in des Autors Vorlesung gerade gelernt, dass Muslime ihre Bevölkerung seit 1900 von 150 Millionen auf 1,8 Milliarden verzwölffacht und bei wehrfähigen Jünglingen den Weltanteil Europas von 1914 erreicht hatten. Rund 800 Millionen Menschen aussichtsloser Territorien strebten schon 2015 nach Europa und Nordamerika. Die 1700 überwundene Angst vor dem Islam war mit voller Wucht wieder da.

Verständlich ist die Hoffnung junger Muslime, den heimischen Kämpfen Richtung Europa zu entkommen, weil es 1945 das Asylrecht erfunden hat. 2021 will die Großmacht Russland über ihren Satelliten Weißrussland junge Muslime gewaltsam über die Grenzen Polens und Litauens in die EU drücken, um deren Lasten weiter zu erhöhen. Anders als die Deutschen von 2015 verteidigen und befestigen die Polen von 2021 umgehend ihre Grenzen. Sie werden dafür teilweise wüst dämonisiert. Doch die pausenlosen Nachteinsätze der polnischen Kräfte inspirieren bis nach Spanien und Griechenland auch Hoffnung. Sie widerlegen Behauptungen von der Wehrlosigkeit des Kontinents. Sogar aus der deutschen Hauptstadt kommen zaghafte Wortmeldungen zur Ahnungs- und Verantwortungslosigkeit der Merkeljahre.

Litauen und Polen im Bündnis gegen Weißrussland, das einst zum litauischen Teil des polnisch-litauischen Großreiches gehörte

Für die gewalttätigen Grenzbrecher gibt es das polnische Angebot, nicht zu schießen. Viel ist das nicht, verglichen mit der Alternative oder gar mit 1621 aber auch nicht wenig. Einen Gewinn gibt es gleichwohl durch das Üben der effektiven Abriegelung einer Grenze. Die polnischen Erfahrungen werden zu einem Schatz für den ganzen Kontinent. Wer ihnen folgt, wahrt seine Chance. Einmal mehr erweist sich für Deutschland und den Rest der Europäischen Union als hilfreich, was für Polen unvermeidliche Bürde ist.


Gunnar Heinsohn (*1943) hat 2011 am NATO Defense College (NDC/Rom) das Fach Kriegsdemografie eingeführt und bis 2020 gelehrt.


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