Am vergangenen Samstag demonstrierten mehrere Zehntausend in Budapest gegen die Regierung von Ministerpräsident Viktor Orbán. Veranstalter war ein neuer Platzhirsch in der politischen Arena: Péter Magyar, bisher eher bekannt als (geschiedener) Ehemann der einstigen Justizministerin Judit Varga. Magyar, bislang ein Privilegierter im Dunstkreis der Macht, will neuerdings das „Orbán-Regime” zu Fall bringen. Er will eine Partei gründen, und die Macht erobern.
Sein erheblicher Zuspruch hat sowohl Regierung als auch Opposition überrascht. Bereits am 15. März (Ungarns Nationalfeiertag) waren mehr Menschen zu Magyars erster Veranstaltung gekommen als zu allen Oppositionsparteien zusammengerechnet. Es ist also Zeit, ihn als relevanten neuen Akteur der ungarischen Politik ernst zu nehmen. Anbei ein paar Grundinformationen.
Wer ist er? Péter Magyar stammt aus einer prominenten und politisch gut vernetzten Juristenfamilie. Als Ehemann von (Ex-) Justizministerin Judit Varga, mit der er drei Kinder hat, erhielt er mehrere gut dotierte Jobs in regierungsnahen Unternehmen. Seine Ehe mit Varga war freilich stürmisch, und als sie ihn verließ (sie hat ihn beschuldigt, in der Ehe oft drohend, erpresserisch und gewalttätig aufgetreten zu sein), verlor er seine Posten. Bevor das publik wurde, verkündete er auf Facebook, er trete freiwillig von seinen regierungsnahen Posten zurück, weil er genug habe von allem und nun das „System” bekämpfen wolle. Zuvor hatte sich Varga aus dem politischen Leben zurückgezogen, als Folge einer Affäre um die Begnadigung eines Pädofilie-Beihelfers durch Staatspräsidentin Katalin Novák. Varga hatte das als zuständige Ministerin gegengezeichnet.
Was sagt er? Rein politisch ist vorerst nichts Neues zu entdecken in Magyars Verlautbarungen. Es sind klassische Positionen der alten Oppositionsparteien, unter anderem für eine festere Einbindung in die EU (zum Beispiel soll Ungarn der EU-Staatsanwaltschaft beitreten). Magyar will das Bildungs- und Gesundheitssystem verbessern, die Umwelt schützen, Korruption bekämpfen und den Rechtsstaat stärken. Dieses in Ungarn als linksliberal geltende Narrativ verbindet er allerdings, anders als die Opposition, mit einem „nationalen” Diskurs: So nannte er die Demonstration am Samstag „Nationaler Marsch” („nemzeti menet”).
Was hat er, was andere nicht haben? „Beweise”. Er behauptet, „Verbrechen” von Regierungsmitgliedern belegen zu können. Bislang hat er aber nur einen sehr kurzen Tonmitschnitt präsentiert, den er heimlich von seiner eigenen Frau anfertigte. Darin sagt Varga, dass eine Mitarbeiterin von Antal Rogán, im Volksmund „Propagandaminister” genannt, bei der Staatsanwaltschaft Unterlagen in einem Korruptionsverfahren geändert habe. Die Staatsanwaltschaft hat dazu gesagt, dies sei physisch unmöglich: Jedes Dokument wird mehrfach registriert und archiviert. Nun wird ermittelt. Auch Judit Varga wurde als Zeugin vernommen.
Was will er? Die Macht. Dafür will er eine Partei gründen, mit der er allerdings noch nicht an den EU-Wahlen teilnehmen kann, weil er den Termin verpasst hat, bis zu dem man eine Partei registrieren muss, damit sie teilnehmen kann. Um dennoch antreten zu könnnen, will er eine der derzeit exisierenden 185 Parteien in Ungarn übernehmen, beziehungsweise mit einer solchen zusammenarbeiten. Sein politisches Gewicht ist aber bereits so groß, dass bei einem solchen Format die nominelle Parteiführung einer bereits existierenden Partei in den Hintergrund gedrängt würde. Er hat ausgeschlossen, mit einer im Parlament vertretenen Partei arbeiten zu wollen.
Kann er gewinnen? Er selbst behauptet, aus Regierungskreisen gesteckt bekommen zu haben, dass man dort intern sein Potential bei 20 Prozent der Wählersympathien misst. Verifizierbar ist nur, dass das regierungsnahe, aber gewöhnlich glaubwürdige Nézőpont Institut ihn derzeit bei 13 Prozent sieht. Damit geht eine Schwächung aller Oppositionsparteien einher, aber nicht der Regierungspartei Fidesz (weiterhin 47 Prozent der „sicheren Wähler”). Diese Umfrage sieht als Haupteffekt eine bipolare Oppositon: Die linksliberale „Demokratische Koalition” unter Ex-Premier Ferenc Gyurcsány und die noch zu gründende Magyar-Partei würden dominieren (und sich wohl gegenseitig zerfleischen). Es geht auch schon los: Gyurcsány und Maygar attackieren einander heftig. Alle anderen Oppositionsparteien würden von einer Magyar-Partei stark geschwächt oder gar ganz von der Bildfläche verschwinden.
Wer sind seine Gegner? Alle Parlamentsparteien. Magyar wird von der Opposition genauso scharf angegriffen wie von der Regierungspartei. Für die bisherige Opposition kann er den Untergang bedeuten. Für die Regierung ist er in den Umfragen bislang (noch) keine Gefahr.
Wer unterstützt ihn? Magyars plötzlicher Erfolg ist ein Symptom für eine Malaise, ein Unwohlbefinden in der Gesellschaft (zumindest in Budapest). Viele Menschen sind nicht nur mit der Regierung unzufrieden, oder nach vier Regierungszyklen gelangweilt, sondern auch frustriert von der chronisch impotenten Opposition. Magyars Unterstützer sind „Zivilisten”, die von der Politik die Schnauze voll haben – wenn man der Nézőpont-Umfrage traut, vor allem Wähler der Opposition.
Muss Orbán ihn fürchten? Auf jeden Fall wird er von der Regierungspartei und ihrem Kommuniktionsapparat sehr ernst genommen. Man versucht, ihn als Frauenschläger (in seiner Ehe) und Chaoten darzustellen. Das war er möglicherweise auch. Wenn er keine weiteren „Beweise” hat (die Hoffnung vieler Menschen auf solche ist die Erklärung für seine Popularität), wird es schwer, das Momentum aufrechtzuerhalten. Man muss abwarten, wie seine noch zu gründende Partei aussehen wird, wer außer ihm selbst mitmacht, und woher er Geld organisieren kann (schon jetzt wird argwöhnisch gefragt: Wer finanziert ihn?). Fest steht: Laut Umfragen wäre seine Partei – wenn er denn eine hätte – aus dem Stand bereits die drittgrößte im Land. Um Orbán zu schlagen, ist das alles zwar ein Anfangserfolg, aber auf Dauer zu wenig. Die nächste Demonstration hat er zum Muttertag angekündigt. Ein schwerer Test: Wenn weniger Demonstranten kommen als zuletzt, ist der Schwung gebrochen.