Kleine Ursachen können große Folgen haben. Das ist spätestens seit dem Bild von dem Schmetterlingsflügelschlag im brasilianischen Dschungel, der einen Orkan vor der amerikanischen Ostküste auslöst, allgemein bekannt. Die britische Innenministerin Priti Patel steht derzeit unter Druck. Seit Monaten erneuert sich Tag für Tag das Drama der Bootsüberfahrten am Ärmelkanal, die sogenannte „Krise der kleinen Boote“. Immer neue Rekordzahlen werden bei den Ankünften gemeldet, bis hin zu mehr als eintausend Migranten, die an einem Tag im November an englischen Küsten landeten. Dass sie nicht zu Recht in Großbritannien sind, weil ihre Einreise nicht rechtens ist, wird schon durch die äußeren Umstände deutlich. Weder haben sich die Migranten ordnungsgemäß und erfolgreich um Einreisepapiere gekümmert, noch können sie im Ernst behaupten, aus Frankreich „geflohen“ zu sein und nun Asyl in Großbritannien zu suchen.
Umso frustrierender ist es für Priti Patel, dass Rückführungen auf den Kontinent die Ausnahme bleiben. Das dürfte allerdings durchaus gewollt sein, denn Frankreich und andere EU-Partner hatten an dieser Stelle in der Vergangenheit mehr möglich gemacht. Irgendwann einmal gab es mehr als 10.000 Rückführungen im Jahr (2010), vor Kurzem glückten noch mehr als 1.000, in diesem Jahr laut einem Staatssekretär für Immigration ganze fünf. Dahinter steht fraglos eine Gemeinheit von Emmanuel Macron, der hier ein weiteres Pfand im Kampf um Post-Brexit-Regelungen gefunden hat. Es ist freilich ein zynisches Geschacher, in dem Migranten und ihre Leben als Jetons dienen.
Auch mit kecken Aussagen wie derjenigen, dass viele der Migranten „nicht in Frankreich bleiben“ wollen, stellt Macron nur die eigene Inkompetenz in Fragen der Migration heraus. Denn in diesem Fall müsste er eigenhändig für die Abschiebung dieser Pseudo-Flüchtlinge aus Frankreich sorgen. Angeblich will Macron bald seine eigenen Vorstellung zur Lösung der Krise in einem Brief an Johnson erläutern. Einer seiner Vorschläge scheint ein Asylannahmezentrum in Calais zu sein – das dürfte nicht die erste Priorität der Briten sein, um das Mindeste zu sagen.
Aberkennung der Staatsbürgerschaft soll vereinfacht werden
Doch der Druck auf die britische Regierung steigt. Zusammen mit den Abschiebezahlen sind auch die Umfragewerte Patels in den Keller gewandert. Auf der Website Conservative Home heißt es: „Patel ist im Niemandsland angekommen … Ihr Sinkflug dürfte durch das Problem mit den kleinen Booten bedingt sein.“ Nicht nur konservative Wähler interessieren sich für dieses Problem.
Daneben soll der „Nationality and Borders Bill“ die Durchführung von Asylverfahren in Offshore-Zentren ermöglichen. Nach einem britischen Überseeterritorium (Ascension Island im Atlantischen Ozean) wurde zuletzt Albanien als Standort ins Gespräch gebracht. Die albanische Regierung widersprach, aber nun bildete angeblich auch das Balkanland eine Reisestation der britischen Ministerin.
Patels Gesetzentwurf liegt bis heute im Unterhaus, wo Anfang November zuletzt eine verbesserte Version eingebracht wurde. Eine der letzten Verbesserungen soll den Entzug der britischen Staatsangehörigkeit weiter vereinfachen. Seit 2006 ist die Aberkennung der Staatsbürgerschaft möglich, wenn damit dem Gemeinwohl gedient ist. Seit 2014 kann das auch im Ausland geborene Briten ohne doppelte Staatsangehörigkeit betreffen, die dadurch vorübergehend staatenlos würden. Nun soll auch die Informationspflicht der Regierung entfallen, zum Beispiel wenn die Adresse der Person unbekannt ist. Doch letztlich behält jeder Betroffene sein Einspruchsrecht, am Ende darf niemand durch das Verfahren staatenlos werden.
Organisieren sich die Briten neue europäische Mehrheiten?
Zugleich hat Justizminister Dominic Raab Änderungen am Human Rights Act auf den Weg gebracht, die Abschiebungen erleichtern sollen. Der Human Rights Act verankert die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) und damit die häufig umstrittenen Urteile des in Straßburg sitzenden Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) im britischen Recht. Mit der Novelle wird London sich weiter aus seinen im weitesten Sinne „europäischen“ Verpflichtungen befreien. Die Menschenrechtskonvention soll ihre Gültigkeit auf der Insel zwar behalten. Aber der Artikel 8, in dem das Recht auf Achtung des Familienlebens festgeschrieben ist, soll nicht im selben Maße wie einst angewandt werden können. Der Artikel gilt als Haupthindernis für Abschiebungen aus Großbritannien. In weitaus geringerem Maße geht es hier um die Artikel 2 (Recht auf Leben) und 3 (Verbot der Folter).
Was die Reise aber vor allem zeigt: Die Briten sehen durchaus Raum für bilaterale Abkommen und Besprechungen auch mit einzelnen EU-Ländern, wie Priti Patel erst Ende November im Unterhaus angedeutet hatte. Laut der Ministerin macht sich inzwischen Frustration in den Hauptstädten der EU breit. Angesichts der Unfähigkeit der Kommission, das Migrationsthema auch nur irgendwie zum Vorteil und gemäß den Interessen der Mitglieder zu handhaben, kündigen sich statt der großen „europäischen Antwort“ Gespräche und Lösungen in kleineren Foren an. Die EU ist in dieser Frage tief gespalten – in die Visegrád-Länder und ihre größer werdende Allianz im Osten, die Süd- und die Nordwesteuropäer. Daneben macht sich eine über die EU hinausreichende „Balkanallianz“ unter Führung Österreichs für Abschiebungen und sichere Grenzen stark.
Doch der krasseste Satz Patels im Unterhaus war: „Offenbar ist es die Kommission, die die führende Rolle in Sachen illegale Migration übernommen hat.“ Patel zog ihre Schlüsse daraus und führt seit einiger Zeit direkte, also bilaterale Gespräche mit Franzosen, Belgiern, Niederländern, Österreichern, Deutschen, Italienern und Griechen. Durch die intensivierte Zusammenarbeit an der EU-Außengrenze kamen zuletzt noch die Polen dazu. Klar ist, dass nicht alle diese Gespräche das gleiche Maß an Übereinstimmung hervorbringen. Aber die eigentliche Frage ist wohl eher: Organisieren sich die Briten hier neue Mehrheiten im Europäischen Rat, an dem London seit dem Brexit nicht mehr teilnimmt? Gibt es eine alternative Europapolitik, die von der Insel wohltätig auf den Kontinent einwirkt?
Der unehrliche Diskurs in der französischen Politik
Dass der britische Druck bis auf den Kontinent Auswirkungen hat, zeigte Emmanuel Macrons pikierte Reaktion auf Johnsons offenen Twitter-Brief: „Unter politischen Anführern kommunizieren wir nicht über Tweets oder offene Briefe, wir sind keine Whistleblower.“ Aber warum eigentlich nicht? Durch Johnsons Brief weiß die europäische Öffentlichkeit immerhin genau, woran es im Streit um die kleinen Boote im Kanal hakt und dass die Franzosen sich weigern, die Verantwortung für die Migranten auf ihrem Territorium zu übernehmen.
Ein Mitarbeiter des Home Office verriet unterdessen, dass man die Vorschläge aus Johnsons Brief den Franzosen längst alle unterbreitet hätte – doch vergeblich, die Franzosen schienen nicht interessiert. „Wir hätten ihnen einen goldenen Topf und einen Zauberstab anbieten können, sie hätten immer noch einen Grund gefunden, nein zu sagen.“ Auch in Frankreich wird ein unehrlicher Diskurs geführt, als ob Grenzen nicht geschützt werden könnten. Die Wahrheit ist, dass man es einfach nicht tun will und sich so seiner moralischen Überlegenheit versichert.
Unterdessen wird immer offenkundiger, wie verwegen die Argumentation der „Flüchtlinge“ und ihrer Helfer ist. Von einer Kurdin heißt es bei der BBC: „Sie versuchte, ein besseres Leben zu führen, sie wählte das Vereinigte Königreich, aber sie starb.“ Doch warum sollte die Völkergemeinschaft solche waghalsigen, lebensgefährlichen Entscheidungen für einen bestimmten Aufenthaltsort mittragen und sogar noch belohnen? Eigentlich müsste alles dafür getan werden, dass es nicht zu solchen Überfahrtversuchen kommt.
Im Norden Frankreichs soll nun die Einzelhandelskette Decathlon den Verkauf von Kajaks eingestellt haben. Das ist zwar unangenehm für private Kajakfahrer, aber immerhin bietet es eine Möglichkeit, Überfahrten zu vermindern. Doch das wird nicht genügen. Ebenso werden die Überwachungsflüge über dem Kanal, die nun bilateral zwischen Großbritannien und Frankreich eingerichtet wurden, nicht ausreichen. Vor allem müsste die französische Regierung klar machen, dass sie in Calais keinen Dschungel und keine unübersichtliche Zone mehr duldet. Aber derzeit scheint auch Macron erkannt zu haben, dass ungelöste Migrationsprobleme bei anstehenden Verhandlungen ein Pfund zum Wuchern sein können.