Zwei Jahre ist es her, dass die Statue des Aufklärers aus einem stillen Garten am linken Seine-Ufer verschwand. Ihre Säuberung nach einem Farbattentat, das sie im Zuge der Black-Lives-Matter-Welle erlitt, war da schon geschehen. Die Einlagerung ins städtische Depot konnte also nur als Sicherheitsmaßnahme und Strategie zur Vermeidung weiterer Peinlichkeiten – für Frankreich, für Paris – verstanden werden. Seitdem ist der Sockel mit dem berühmten Namenszug verwaist.
Es begann jedenfalls eine doppelte Detektivstory: Wohin hatte die von der nominellen Sozialistin Anne Hidalgo (im Herzen ist sie eine Grüne) geführte Stadtregierung die Statue verbracht? Und vor allem warum? Die Stadt behauptete, das Standbild benötige einen weiteren Reinigungsgang. Aber Photos der gereinigten Statue bewiesen das Gegenteil. Es war eine Ausrede einer ratlosen Stadtregierung, die nicht wusste, welche Entscheidung sie fällen würde und aus welchem Grund.
Macrons Anti-Woke-Rede … ohne viel Belang
Nun erfuhr die wieder erstaunte Öffentlichkeit, dass Voltaire künftig im Innenhof der Medizinischen Fakultät sein Zuhause finden soll. Die Überdachung des Hofes soll den Kalkstein angeblich vor der Witterung schützen. Aber vor allem besitzt der Innenhof ein abschließbares Eisengitter, das nachts geschlossen wird. Daraus erhellt: Die Stadt Paris will Voltaire künftig im Auge behalten, um die Wiederholung ähnlichen Unfugs zu vermeiden. Sie scheut aber auch die Mühe, den ursprünglich Standort ausreichend zu sichern und die Ordnungswidrigkeiten konsequent zu verfolgen.
Und dabei hatte Präsident Macron sich in einer Rede aus dem Jahr 2020 dafür ausgesprochen, die Statuen des Landes nicht abzubauen, sondern im Gegensatz sie so zu ehren und zu respektieren, wie man das immer getan hatte. Es war die Anti-Woke-Rede schlechthin gewesen, aber sie bleibt gegenüber einer feindseligen Öffentlichkeit offenbar wirkungslos. Der vielleicht größte aller französischen Denker kann nicht an seinen gewohnten Ort zurückkehren.
Der alte Standort war keine monumentale Anlage gewesen, ein kleines Gärtchen an einer unscheinbaren Straßenecke. Er besaß aber Symbolik, denn direkt in der Nähe lag jener Quai Voltaire, der – noch als Quai des Théatins – die letzte Adresse des Philosophen gewesen war. Es war zudem nicht das erste Mal, dass die Statue beschmiert worden war. Schon im Jahr 2018 war das, wie Bilder belegen, der Fall gewesen (hier und hier).
Voltaire gilt aus unerfindlichen Gründen als der Bourgeois, der Bürgerliche unter den großen Freigeistern des 18. Jahrhunderts, was heute schon fast eine Beschimpfung ist, obwohl sich mit genau diesem Stand der Kampf um die bürgerlichen Freiheiten verband. Im BLM-Sommer 2020 glaubte eine franko-algerische Autorin gar, dass Voltaire mit seinem Rassismus und Antisemitismus Hitler inspiriert habe. Andere Philosophen, vor allem Rousseau, galten im (auch schon verflossenen) 20. Jahrhundert als fortschrittlicher und marxismuskompatibler, nach dem Motto: Der Mensch wird gut geboren, aber von der Gesellschaft verdorben.
Es wird insgesamt relativ schwierig für Gründerväter, die kurz vor der „sentimentalen Moderne“ geboren wurden und wirkten und damit unsere moderne Identität begründen halfen. Das gilt für die amerikanischen Verfassungsväter Jefferson und Washington so gut wie für zahllose britische Politiker bis hin zu Winston Churchill (der lebte natürlich inmitten der sentimentalen Moderne, ignorierte sie aber nach Kräften). In Deutschland haben wir zu jener Zeit noch nicht so viele Verantwortungsträger zustande gebracht. Deshalb trifft uns das nicht im selben Maße.
Voltaire fürchtete den Sieg des Fanatismus
Natürlich könnte man uns Kant oder Hegel mit gleich guten und schlechten Argumenten streitig machen. Sie profitieren aber von der Privatheit ihres Denkens, die ihnen keine besonders auffälligen Denkmäler eingebracht hat. Aber für die Völker – Franzosen, Briten, Amerikaner – die jene moderne Achsenzeit durch ihre politische Philosophie mitgestalteten, sind unsere Tage schwierige Tage. Der Historiker Loris Chavanette sprach in einem Gastbeitrag für den Figaro von „einer weiteren Niederlage“, Voltaire werde hinter Gittern „schlafen“ gelegt.
Darunter erinnert ein Leser daran, dass Voltaire immer schon den Sieg des Fanatismus über Vernunft und Toleranz befürchtet habe. Das ist nun wirklich sehr beziehungsreich auch zu unserer Zeit. Denn zum einen kann man im heutigen Frankreich schon seit Jahren keine Aufführung der Tragödie „Der Fanatismus oder Mohammed der Prophet“ mehr erleben (Stichwort „islamo-gauchisme“ oder Links-Islamismus).
Und was ist es daneben anderes als Fanatismus, wenn Menschen durch die Straßen einer Stadt ziehen, um Denker, an denen ihnen einzelnes missfällt, optisch zu erniedrigen und zu diffamieren, indem sie wahllos Farbe und Parolen auf sie sprühen? Die Stichworte lauten hier „Diversity“ und BLM, auch wenn das Vorgehen der fanatisierten, verhetzten Massen seit dem Sommer 2020 eigentlich alles andere als „divers“ war, eher war es erschreckend konform und scheute jede abweichende Meinung. Der Fanatismus, so definierte Voltaire in seinem Philosophischen Wörterbuch, verhalte sich zum Aberglauben so wie die Exaltation zum Fieber, wie der Wutanfall zum Zorn.
Das Zurückweichen der Stadtregierung, die Voltaire nur noch im abschließbaren Innenhof der Pariser Universität ausstellen will, gibt diesen intoleranten Bewegungen mehr Raum in der französischen Hauptstadt. Welche Ironie, dass sich beide Bewegungen letztlich auch auf das Denken des wichtigen Aufklärers zurückführen können, der als einer der ersten für die Unabhängigkeit des Individuums, damit auch für die Selbstbestimmung von Minderheiten eintrat.