Als der polnische Romanautor Witold Gombrowicz 1963 einer Einladung der Ford-Stiftung nach West-Berlin folgte, war er angesichts der konzilianten und toleranten Einstellung der Deutschen irritiert, wo doch seit dem Krieg nicht einmal zwei Jahrzehnte vergangen waren. Die hohe Lebensqualität und auffällige Seelenruhe der Westberliner empfand der Stipendiat als einen einzigen historischen Schelmenstreich, als Ironie der Geschichte. Er konnte nicht begreifen, weshalb gerade an diesem Ort, im „Zentrum der Katastrophen“, die Menschen sich zu dem Geschehenen kaum zu Wort meldeten und ein behagliches Leben führen konnten, als „wäre nie etwas passiert“.
Wenn sich heute einige Historiker zu der Behauptung durchringen, die deutsche Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert sei mit „Unterschlagungsversuchen“ übersät, dann sprechen sie genau diese Entwicklung an, deren Beginn der Diarist Gombrowicz in seinem Notizbuch eingefangen hat: die deutsche Unfähigkeit zur elaborierten Analyse der eigenen Vergangenheit. Diese Entwicklung ist noch längst nicht abgeschlossen. Gerade in Zeiten, wo sich Deutschland erneut auf Opfernarrative kapriziert, wird dies besonders deutlich. Einige Experten sprechen gar vom „Historikerstreit der schweigenden Mehrheit“, der – anders als in den 1980er Jahren – längst über Fachkreise hinausginge.
„Kulturträger“ im Osten Europas
Auch schon vor Hitler wurde deutsche Unterwerfungspolitik in unmittelbarer osteuropäischer Nachbarschaft betrieben. Dennoch kann man mitunter den Eindruck gewinnen, Polen bliebe noch heute ein für die Deutschen weitgehend „geschichtsfreier“ Raum, bestenfalls „territorialer Nutznießer“ der beiden „deutschen Katastrophen“ von 1918 und 1945. Der historischen Tatsache, dass Preußens Aufstieg im 19. Jahrhundert faktisch durch den ruinösen Niedergang der „Rzeczpospolita“ ermöglicht wurde, habe ich selbst im deutschen Geschichtsunterricht zu keinem Zeitpunkt gehört.
Nach der Reichsgründung wussten sich die polnischen Eliten noch gegen die preußischen Repressionen zu behaupten, bevor sie von Bismarck in Richtung auf einen katastrophenträchtigen Verlauf gedrängt wurden. Der sogenannte „Kulturkampf“, der es insbesondere auf die Institution der katholischen Kirche abgesehen hatte, erreichte 1874 seinen Höhepunkt. Bismarcks „pommersche“ Erfahrungen als junger Mann sowie dessen Begegnung mit selbstbewussten Polen im preußischen Osten sollten ihn während seiner späteren Kanzlerschaft dazu bewogen haben, gerade hier die antipolnischen Maßnahmen mit ganz besonderen Anstrengungen voranzutreiben.
Die Kirche sollte nach der Verabschiedung der „Mai-Gesetze“ der staatlichen Aufsicht unterstellt werden. Etwa hundert polnische Priester, darunter der bekannte Erzbischof von Gnesen-Posen Mieczysław Ledóchowski, wurden inhaftiert. Die deutsche Regierung zog die Schulaufsicht an sich, was ein allgemeines Verbot des Polnischen als Unterrichtssprache bedeutete. Die Polen wurden durch weitere restriktive Gesetze faktisch zu Bürgern zweiter Klasse. Die Herrschaftspraktiken des Kaiserreichs drückten sich in der Beschneidung elementarer Menschenrechte aus. Viele der in der Amtszeit Bismarcks verabschiedeten Gesetze blieben bis zum Ersten Weltkrieg in Kraft.
Literarische Spuren
Die deutsche Literatur aus dieser Zeit sollte den in Berlin vorgezeichneten Herrschaftsanspruch im Osten Europas teilweise untermauern. Gustav Freytags Roman „Soll und Haben“ hatte als nationales Erziehungswerkzeug herzuhalten. Die Polen werden darin wie Eingeborene beschrieben, einige Darstellungen erinnern geradezu an alte amerikanische Romane über „rückständige“ Indianer. Zum wachsenden Potenzial der polnischen Nationalbewegung schweigt Freytag einstweilen beredt. Sie war aber keineswegs nur ein reines Elitenphänomen der Emigration.
Der polnische Literaturnobelpreisträger Henryk Sienkiewicz hat in seiner Novelle „Bartek, Zwycięzca“ („Bartek, der Sieger“) die Atmosphäre des sich in der Regierungszeit des „eisernen Kanzlers“ vollziehenden Wandels fühlbar eingefangen. Sienkiewicz betreibt ein vielschichtiges Satirespiel, identifiziert und invertiert verkürzende Stereotypien, erprobt sie an ihrem preußischen Urheber, der sein Unwissen über die polnische Kultur mit dem Konstrukt der zivilisatorischen Überlegenheit zu verschleiern sucht, ja seine eigene Unbedarftheit nicht einmal wahrnimmt.
Erprobte Propaganda
Aus dem Ersten Weltkrieg gingen eine neue Staatenwelt und ein unabhängiges Polen hervor, das der deutschen Besatzung vorläufig ein Ende bereitete. Die Vorstellung einer „zivilisatorischen Mission“ beeinflusste jedoch auch nach 1918 das kollektive Bewusstsein der Deutschen. Nachdem Berlin im Jahr 1925 in Locarno die Westgrenze anerkannt hatte, richtete sich der revisionistische Konsens primär gegen das wiederhergestellte Polen. Das Konstrukt der zivilisatorischen Superiorität gehörte zu den kompensatorischen Diskursstrategien einer labilen Weimarer Republik, die sich nach der Versailler Friedenskonferenz um ihre Rechte beschnitten sah.
Der Verlust der wirtschaftlichen Ressourcen hat der Weimarer Republik beträchtlich zugesetzt. Der sogenannte „Zollkrieg“ sowie das psychische Trauma, das die Rückkehr Posens, Pommerns und großer Teile Oberschlesiens nach Polen auslöste, waren für die weitere politische Entwicklung in Berlin überaus folgenreich. Die Idee der „Wiedergewinnung“ polnischer Gebiete mit deutschen Bevölkerungsanteilen ist ja bekanntlich nicht erst Hitler in den Sinn gekommen. Trotz aller Widrigkeiten und deutscher „Phantomschmerzen“ konnte die Zweite Polnische Republik zunächst gedeihen. Es wurden eine Armee, ein Justizwesen, ein Bildungssystem, ein Beamtencorps, ein Parlament, der Hafen in Gdynia und weitere wichtige Institutionen geschaffen. Die weitere bedauerliche Ereignisabfolge ist jedem Deutschen hinlänglich bekannt. Der Bismarck-Mythos spielte in diesen späten antipolnischen Kampagnen leider immer wieder eine Rolle.
Wojciech Osiński ist Berlin-Korrespondent des Polnischen Rundfunks.