Es ging alles sehr schnell: Am 17. März wurde im ungarischen Parlament ein Entwurf zur Modifizierung des Gesetzes zur Versammlungsfreiheit eingereicht und angenommen, der ein Verbot der jährlichen Pride-Umzüge ermöglicht. Am 19. März war es bereits von Staatspräsident Tamás Sulyok unterschrieben. Durch die Gesetzesänderung können Versammlungen verboten werden, die den Bestimmungen des „Kinderschutzgesetzes“ von 2021 zuwiderlaufen.
Das Kinderschutzgesetz verbietet, Minderjährigen ohne Einwilligung der Eltern sexuelle oder sexualpädagogische Inhalte zugänglich zu machen, insbesondere solche, die auf Homosexualität und Geschlechtsumwandlung hindeuten. Nach Darstellung der Regierung bezweckt dieses Gesetz, die Sexualerziehung von Kindern ihren Eltern vorzubehalten.
Die Teilnehmer an solchen Veranstaltungen sollen durch Gesichtserkennungs-Software identifiziert werden und Strafgelder von umgerechnet mehr als 500 Euro zahlen müssen. Diese Strafgelder müssen laut Gesetz dann für „Kinderschutz“ verwendet werden – also beispielsweise für Waisenhäuser.
Im Text des Gesetzentwurfs vom 17. März wird als rechtliche Grundlage Artikel 6.1 des ungarischen Grundgesetzes herangezogen. Das ist der Passus der Verfassung, der die freie Wahl und Ausübung von Religion und „anderer Überzeugungen“ zum Inhalt hat. Wenn also die Behörden aufgrund dieser neuen gesetzlichen Grundlage im Juni die diesjährige Pride in Budapest und anderswo in Ungarn verbieten sollten, dann würde dies rechtlich als Einschränkung der Religionsfreiheit, beziehungsweise der Freiheit, „andere Überzeugungen“ auch öffentlich auszudrücken, interpretiert, aus Erwägungen des Kinderschutzes.
Durch den Verweis auf Artikel 6 der Verfassung interpretiert das Gesetz Homosexualität und sonstige sexuelle Neigungen, die von der heterosexuellen Norm abweichen, also letztlich als „Überzeugung“.
Das Gesetz mag auch eine taktische Falle sein, mit der Orbán die aufstrebende Oppositionspartei Tisza und ihren Vorsitzenden Péter Magyar vor den kommenden Wahlen 2026 in Bedrängnis bringen will. Einmal hat ein ähnliches Manöver bereits sehr gut geklappt. Im Juli 2021 wurde das „Kinderschutzgesetz“ verabschiedet, das zur Wunderwaffe im Wahlkampf 2022 wurde.
Kritiker monierten damals, das Gesetz werfe Homosexuelle und Kinderschänder bewusst in einen Topf. Aus Brüssel waren Rufe der Abscheu und Empörung zu vernehmen, NGOs forderten Sanktionen, die Medien liefen Sturm, und die linksliberale Opposition war mehr oder minder gezwungen, in diesen Chor einzustimmen – in einer Frage, in der die Mehrheit der Gesellschaft klar hinter Orbán stand. Mit Homosexuellen als Zielgruppe lässt sich keine Wahl gewinnen. Das Gesetz stärkte zudem das familienfreundliche politische Profil der Regierungspartei.
So soll es wohl auch diesmal werden. Die Opposition ist diesmal freilich anders strukturiert. Zwar haben sich die früheren Wähler linksliberaler Parteien hinter Péter Magyar zusammengeschart, aber er selbst versucht, konservativ zu wirken. Er weiß, dass Ungarn eine konservative Gesellschaft ist, und dass man mit einer linksliberalen Attitüde keine Wahlen gewinnen kann. Er hat betont zurückhaltend auf das neue Gesetz reagiert, indem er lediglich sagte, er bekenne sich zur „Versammlungsfreiheit“. Das Wort „Pride“ kam ihm nicht über die Lippen.
Auch Magyars pro-EU Haltung dürfte zum Problem werden. Man darf davon ausgehen, dass die EU-Kommission in dieser Sache ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten und das EU-Parlament einmal mehr über Ungarns demokratische „Defizite“ debattieren wird. Die Haltung der EPP, der Magyars Tisza-Partei angehört, dürfte ebenfalls klar sein. Da dürfte es für Magyar schwer sein, sich einerseits als pro-EU zu positionieren, und sich andererseits von der EU-Kritik am ungarischen Gesetz zu distanzieren.
Natürlich wird Orbán einen Preis zahlen müssen für das sogenannte „Pride-Gesetz“, insofern die EU höchstwahrscheinlich am Ende eines längeren Verfahrens Sanktionen verhängen und die Freigabe bislang blockierter EU-Gelder wegen „mangelnder Rechtsstaatlichkeit“ zugleich in noch größere Ferne rücken dürfte. Das Kalkül ist aber wahrscheinlich, dass der innenpolitische Vorteil, der sich aus solchen EU-Attacken ergäbe, die politischen Kosten mehr als aufwiegt.