Seit dem 30. Juni wirken Politiker und Journalisten im EU-Zirkus wie aufgescheuchte Hühner. Tag für Tag platzt eine neue Bombe, denn Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán nutzt die turnusmäßige Ratspräsidentschaft seines Landes, um im schlaffen Brüssel zu demonstrieren, wie man kraftvolle Politik macht. Für viele Kommentatoren unerträglich. Am unerträglichsten scheint für die meisten ihre eigene Ahnungslosigkeit zu sein: Jeden seiner spektakulären Schritte haben Orbán und sein effizientes Team bis zum letzten Augenblick so geheimhalten können, dass es fast eine Demütigung der Alleswisser-Zunft (Politiker und Medien) in Europa darstellt.
Es begann am 30. Juni, als Eurokraten und ihre medialen Wegbegleiter einem entspannten, sommerlichen Sonntag entgegensahen. Da verkündeten Orbán, Österreichs FPÖ-Chef Kickl und der tschechische ANO-Chef Babiš die Gründung einer neuen europäischen Parteienfamilie, „Patriots for Europe“ (PfE). Ein Aufschrei ging zuerst durch die sozialen und dann auch die herkömmlichen Medien: Was? Lächerlich! Belanglos! Zum Scheitern verurteilt!
Noch einen Tag zuvor waren sich alle „wohlinformierten” Experten sicher gewesen, dass Orbán sich in ein so einsames Abseits manövriert hatte, dass nicht einmal die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni mit ihm arbeiten wolle. Sie hatte ihm unmögliche Bedingungen für einen Beitritt in die von ihr geführte konservative Parteienfamilie EKR gestellt, sowie eine fremden- und vor allem ungarnfeindliche Partei aufgenommen, die rechte rumänische AUR.
Fünf Tage später erklärte die spanische Vox (ein EKR-Mitglied), dass sie sich den PfE anschließen werde. Bis dahin war bereits klar, dass wohl die komplette bisherige Parteienfamilie ID mit Orbáns neuer Gruppe fusionieren wird. Und das bedeutet wahrscheinlich, dass ab nächster Woche die EfP größer sein werden als Melonis EKR, die durch den Abgang von Vox geschwächt wird.
Am 1. Juli übernahm Orbán dann persönlich für Ungarn die EU-Ratspräsidentschaft, ein weitgehend repräsentatives Amt, dass der jeweilige Staat aber nutzen kann, um bestimmte Projekte der EU-Politik zu beschleunigen oder zu verlangsamen. Groß war das mediale Geschrei: Ausgerechnet Orbán! Die EU ist in tödlicher Gefahr! Putins Agent am Lenkrad in Brüssel!
Und dann war er am 2. Juli plötzlich in Kiew beim ukrainischen Präsidenten Selenskyj. Wieder Hohn und Spott der plappernden Klassen. Aha, endlich hat er klein beigegeben! Schande, dass er als letzter aller EU-Regierungschefs den Weg nach Kiew findet! Hoffentlich schlagen ihn die Ukrainer nicht, schließlich ist er Putins Schoßhund.
Niemand beachtete, dass Orbán aus dem dreistündigen Gespräch ein handfestes Ergebnis mitbrachte: Selenskyjs Zusage, ein Grundlagendokument für die bilateralen Beziehungen auszuarbeiten, in dem unter anderem umfassende Rechte für die ungarische Minderheit festgeschrieben werden. Dafür wird es in Ungarn eine ukrainische Schule für Flüchtlingskinder geben.
Am 5. Juli war Orbán dann ebenso plötzlich in Moskau, um mit Russlands Präsident Putin zu verhandeln. Europäische Politiker und Medien verfielen in Tobsuchtskrämpfe. Wie konnte er es wagen! Als EU-Ratspräsident! Der Präsident des Europäischen Rates, Charles Michel, twitterte, Verzeihung, X-te, dass Ungarn als Ratspräsident kein Recht habe, im Namen der EU zu verhandeln.
Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen setzte einen martialischen Tweet ab, in dem sie, anders als Michel, Orbán namentlich erwähnte: Appeasement werde Putin nicht aufhalten.
Der ungarische Journalist Szabolcs Panyi twitterte erregt, Orbán habe die Reise geheimgehalten und demnach „Journalisten getäuscht“. Journalisten getäuscht! Ja, darf er das denn?
Ihre gemeinsame Pressekonferenz genossen die beiden Männer sichtlich. Putin formulierte verschmitzt und mit maximalem Reizwert: Er verstehe, dass Orbán diesmal nicht nur als „unser Partner“ da sei. Partner Putins!? Das gab sicher wieder Munition für alle Orbán-Kritiker des Planeten Erde. Sondern, so fuhr Putin fort, Orbán sei diesmal auch als „Vertreter der EU-Ratspräsidentschaft“ gekommen. Genau das durfte Orbán doch gar nicht!
Orbán seinerseits hielt den Ball flach. Es sei ihr 14. „bilaterales Treffen“, sagte er. Wichtiges Thema seien die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen. Er sei in Kiew gewesen und nun in Moskau, und das sei allerdings auch als „Friedensmission“ gedacht – in niemandes Auftrag. Sondern deswegen, weil dieser Krieg nicht aufhören werde, wenn niemand etwas im Sinne eines Friedens unternehme, und weil Ungarn das letzte Land in Europa sei, das noch mit beiden Seiten reden könne, also mit Moskau und Kiew.
In Kiew habe er erfahren wollen, wo dort die „Grenzen“ sind für die inhaltlichen Parameter einer Beendigung des Krieges. Diese habe er Putin mitgeteilt, und ihm seinerseits drei Fragen gestellt: Wie bewerte er die bislang vorliegenden Friedenspläne und vorgeschlagenen Verhandlungsformate? Wie denke er über die Reihenfolge eines Waffenstillstands und Friedensverhandlungen? Und wie stelle er sich nach dem Krieg die europäische Sicherheitsarchitektur vor?
Putin seinerseits wich nicht von seinen maximalen Forderungen für einen Frieden ab, genau so, wie Selenskyj drei Tage davor nicht von seinen Positionen abgerückt war. Putin fordert unter anderem den Abtritt der vier ukrainischen Regionen, die Russland für sich beansprucht, und Selenskyj fordert einen Rückzug Russlands aus allen diesen Gebieten.
Beide haben aber in letzter Zeit wiederholt das Wort „Frieden“ in den Mund genommen. Ob Orbán geheime Botschaften von Selenskyj nach Moskau brachte, oder von Putin mitnahm, weiß niemand außer den Betroffenen.
Orbán will nun, inexistentes Verhandlungsmandat hin oder her, die Ergebnisse seiner Reise den EU-Oberen in Brüssel mitteilen. Vermutlich hält er derweil auch mit dem US-Präsidentschaftskandidaten Donald Trump Kontakt, der behauptet, den Krieg schnell beenden zu können, wenn man ihn zum Präsidenten wählt.
Vielleicht war all das inhaltlich nur ein geschickter (oder, in den Augen seiner Kritiker, extrem ungeschickter) PR-Schachzug.
Eine Folge hat Orbáns Ünerraschungsserie aber doch: De facto ist er jeden Tag in den Schlagzeilen, immer verbunden mit dem Wort „EU-Ratspräsident“. Er ist jetzt das wahrnembarste Gesicht der EU. Und tatsächlich hat er sich im Guerilla-Stil eine Rolle geschnappt, die eigentlich jene des EU-Außenbeauftragten ist.
Wer ist nochmal der EU-Außenbeauftrage? Genau, niemand außer EU-Experten hat den Namen parat, unsere geneigten Leser vielleicht auch nicht. Orbán kennt jeder, und er findet wohl auch schneller eine offene Tür in Moskau und Peking als wer immer es ist, der in der EU-Außenpolitik formuliert.
Mit den Informationen, die er aus Moskau mitbringt (falls er denn welche mitbringt), wird man in Brüssel widerwillig, aber doch arbeiten.
Derweil steht am Montag die nächste Orbán-Bombe an: Da konstituiert sich seine neue Parteienfamilie EfP. Aber das ist nur der Anfang: EfP und EKR werden höchstwahrscheinlich eine strukturierte Zusammenarbeit bei vielen Themen vereinbaren (wohl mit Ausnahme der Russland-Politik). Es werden nicht zwei kleinere Gruppen, sondern de facto ein großer Block sein. Und dessen Mitglieder sind in genug Ländern an der Macht, oder haben gute Aussichten, bald an der Macht zu sein, dass ihr eigegntliches Gewicht sich nicht nur im Parlament der EU manifestieren wird, sondern im Rat der Staats- und Regierungschefs.