In Österreich steht Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im Kreuzfeuer der Kritik, seit er die Corona-Politik seiner eigenen Regierungskoalition kritisiert hat. Nehammer will ausgehend mit seiner ersten Rede an die Nation am 10. März einen „Versöhnungsprozess“ in Sachen Corona starten, eine Aufarbeitung der Corona-Politik von ÖVP und Grünen. Dazu soll eine eigene Kommission gegründet werden, die die Entscheidungen der Regierung im Nachhinein kritisch prüfen soll. Das ist zunächst einmal zu würdigen, denn eine solche Aufarbeitung der freilich nicht erst im Nachhinein umstrittenen Maßnahmen wäre international wünschenswert. Der tonangebende Standard glaubt freilich, dass die Ankündigung zunächst „ins Blaue hinein“, ohne genaues Konzept gemacht worden sei. Nun gut, erst einmal zählt der Wille. Bis Ostern soll an dieser Stelle etwas entstehen.
Dabei hätte man ebensogut andere Experten anhören können und müssen – etwa solche, die die Gesamtheit des Gesundheitssystems im Auge haben, aber auch Sachverständige aus anderen Gesellschaftsbereichen, die ebenfalls unter den Maßnahmen litten und deren resultierende Dysfunktionalität am Ende schlimmere Folgen gehabt haben könnte als die Epidemie selbst.
Medien und andere machen die Selbstkritik nieder
Doch dieses Gespräch über einen irregeleiteten „Fachdiskurs“, der keiner war, wollte und will man bis heute nicht führen. Also mussten der Kanzler und seine Aussage medial niederkartätscht werden. Ähnliche Diskussionen sind dabei auch aus anderen Ländern – sogar aus Deutschland – in Erinnerung, wo selbst Experten daran erinnerten, dass ihr Rat nur so und so weit reichte und nicht den Stein der Weisen präsentierte. Solches ist etwa vom Virologen Klaus Stöhr erinnerlich. In Großbritannien gab es mitten in der Pandemie eine Gegengründung zum offiziellen SAGE-Gremium, die mehr Sachverstand einbinden wollte.
Auch die wissenschaftliche Gemeinde empörte sich, vielleicht zu Recht. Denn dass Politiker keinem Experten „hörig“ sein sollen, vielmehr vor jeder Entscheidung verständliche Erklärungen einzufordern haben, ist ja richtig. Nehammers Aussage ist insofern nicht klar genug. Meinte er, dass im politischen Raum, in dem auch manche Experten lebten, für eine bestimmte Zeit gewisse Meinungen einfach begründungslos Geltung beanspruchen konnten?
Nehammer will Wunden heilen und „Abgehängte“ einsammeln
Noch einmal Nehammer im Originalton: „Corona war für unsere Gesellschaft eine Art Trauma, das wir nun gemeinsam aufarbeiten sollten.“ Eine „kritische, schonungslose Analyse“ sei die Voraussetzung, um die „gesellschaftlichen Wunden zu heilen und das Trauma zu bewältigen“. An der Donau hat man die Vorstellung noch nicht ganz aufgegeben, dass die Gesellschaft friedlich versöhnt miteinander leben soll, auch wenn man das Ergebnis gelegentlich als politischen Kitsch ansehen mag. Man wird aber vom Kitschvorwurf absehen, wenn man die wirklich ernsten Folgen der ausgrenzenden Politikmaßnahmen bedenkt.
Dabei steht der Kanzler seinen Bürgern aber doch relativ nahe, zumindest im Vergleich mit den Sozialdemokraten. Die oppositionelle SPÖ begrüßte den Vorschlag grundsätzlich, wandte aber ein, die Aufarbeitung müsse „ernsthaft, seriös und objektiv“ geschehen – also bitte nicht zu weit gehen bei der Auswertung des öffentlichen Versagens. Dagegen nannte FPÖ-Chef Herbert Kickl gleich das ganze Vorgehen in überspitzter Weise einen „Verhöhnungsprozess“, an dessen Stelle „ein öffentliches Schuldeingeständnis der Bundesregierung, ihrer rot-pinken Steigbügelhalter und des Bundespräsidenten“, der Rücktritt der Regierung und sofortige Neuwahlen treten müssten.