Tichys Einblick
Impfpflicht, 3G & Co.

Corona-Politik in Österreich: Kanzler Nehammer will Versöhnungsprozess anstoßen

Der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer strebt eine Art Wahrheitskommission zur Corona-Politik seiner Regierungskoalition an. Seine Erklärungen dazu legen ein grelles Licht auf die Entscheidungen der vergangenen Jahre: Hörte die Regierung auf Experten, die ihre Fachmeinungen nicht gut begründen konnten?

IMAGO/Eibner Europa

In Österreich steht Bundeskanzler Karl Nehammer (ÖVP) im Kreuzfeuer der Kritik, seit er die Corona-Politik seiner eigenen Regierungskoalition kritisiert hat. Nehammer will ausgehend mit seiner ersten Rede an die Nation am 10. März einen „Versöhnungsprozess“ in Sachen Corona starten, eine Aufarbeitung der Corona-Politik von ÖVP und Grünen. Dazu soll eine eigene Kommission gegründet werden, die die Entscheidungen der Regierung im Nachhinein kritisch prüfen soll. Das ist zunächst einmal zu würdigen, denn eine solche Aufarbeitung der freilich nicht erst im Nachhinein umstrittenen Maßnahmen wäre international wünschenswert. Der tonangebende Standard glaubt freilich, dass die Ankündigung zunächst „ins Blaue hinein“, ohne genaues Konzept gemacht worden sei. Nun gut, erst einmal zählt der Wille. Bis Ostern soll an dieser Stelle etwas entstehen.

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Auch konkret hat der Kanzler etwas vorgelegt, nämlich die Aussage, dass die Politik manchmal „zu expertenhörig“ gewesen sei. Als Beispiele nannte Nehammer die Impfpflicht, die österreichischen Corona-Hilfen (die wenig effektiv, dafür aber teuer waren) und die 3G-Regel am Arbeitsplatz. Er meinte hoffentlich auch die noch absurdere 2G-Regel, die ja jeden Menschen von kulturellen und anderen Veranstaltungen ausschloss, der kein „Impfzertifikat“ vorweisen konnte. Insgesamt stellte sich Nehammers Wort als schlimmer „Sager“ heraus, der Presse und Öffentlichkeit bis heute spaltet. Bei der Aufregung geht es aber tatsächlich um das, was Nehammer wirklich sagen wollte, nicht um ein „Aus-dem-Zusammenhang-Reißen“ oder ähnliches. Sein Ausspruch war ein massiver Vorwurf an die Pandemie-Experten, Virologen und Epidemiologen, aber auch die mit ihnen verbundenen Politikaster, die den öffentlichen Diskurs in den meisten westlichen Ländern beherrschten.

Dabei hätte man ebensogut andere Experten anhören können und müssen – etwa solche, die die Gesamtheit des Gesundheitssystems im Auge haben, aber auch Sachverständige aus anderen Gesellschaftsbereichen, die ebenfalls unter den Maßnahmen litten und deren resultierende Dysfunktionalität am Ende schlimmere Folgen gehabt haben könnte als die Epidemie selbst.

Medien und andere machen die Selbstkritik nieder

Doch dieses Gespräch über einen irregeleiteten „Fachdiskurs“, der keiner war, wollte und will man bis heute nicht führen. Also mussten der Kanzler und seine Aussage medial niederkartätscht werden. Ähnliche Diskussionen sind dabei auch aus anderen Ländern – sogar aus Deutschland – in Erinnerung, wo selbst Experten daran erinnerten, dass ihr Rat nur so und so weit reichte und nicht den Stein der Weisen präsentierte. Solches ist etwa vom Virologen Klaus Stöhr erinnerlich. In Großbritannien gab es mitten in der Pandemie eine Gegengründung zum offiziellen SAGE-Gremium, die mehr Sachverstand einbinden wollte.

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Nehammer verteidigte sich nun im Gespräch mit dem Kurier und beharrte darauf, dass man auch mit den Experten in einen – ergänze: kritischen – Dialog treten müsse: Denn „auch hier gibt es das Thema, dass sich die Experten manchmal auch nicht ausreichend erklären konnten, wie sie zu welcher Expertise gekommen sind.“ Noch nicht einmal die Experten selbst konnten ihre Fachmeinung erklären? Eine Expertise ohne Provenienz, ohne verständlichen, sachlichen Hintergrund, frei in der Luft hängend? Das wäre allerdings ein starkes Stück. Denn dann wäre es ja gar keine fachlich begründete Auffassung gewesen, sondern nur eine unbegründete, vielleicht sogar auf Vorurteilen, Fehlannahmen, wohlverstandenen Eigeninteressen beruhende Privatmeinung. Oder?

Auch die wissenschaftliche Gemeinde empörte sich, vielleicht zu Recht. Denn dass Politiker keinem Experten „hörig“ sein sollen, vielmehr vor jeder Entscheidung verständliche Erklärungen einzufordern haben, ist ja richtig. Nehammers Aussage ist insofern nicht klar genug. Meinte er, dass im politischen Raum, in dem auch manche Experten lebten, für eine bestimmte Zeit gewisse Meinungen einfach begründungslos Geltung beanspruchen konnten?

Nehammer will Wunden heilen und „Abgehängte“ einsammeln

Noch einmal Nehammer im Originalton: „Corona war für unsere Gesellschaft eine Art Trauma, das wir nun gemeinsam aufarbeiten sollten.“ Eine „kritische, schonungslose Analyse“ sei die Voraussetzung, um die „gesellschaftlichen Wunden zu heilen und das Trauma zu bewältigen“. An der Donau hat man die Vorstellung noch nicht ganz aufgegeben, dass die Gesellschaft friedlich versöhnt miteinander leben soll, auch wenn man das Ergebnis gelegentlich als politischen Kitsch ansehen mag. Man wird aber vom Kitschvorwurf absehen, wenn man die wirklich ernsten Folgen der ausgrenzenden Politikmaßnahmen bedenkt.

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Merkwürdig war aber, wenn Nehammer dann fortfuhr und sagte, viele Menschen fühlten sich „abgehängt, vom Staat nicht mehr vertreten“. Das klingt dann doch etwas herablassend, als ob „der Staat“ sich nur gelegentlich zu den Menschen hinabneigen müsste, um diese „Vertretung“ wieder zu organisieren. Dabei läuft der Prozess in Demokratien ja gerade andersherum. Die Menschen, die diesen Maßnahmen nicht zustimmten, waren also nicht die „Abgehängten“, Frustrierten, Deplorablen, sondern der Staat und der demokratische Diskurs waren dysfunktional geworden. Das ist etwas ganz anderes als das, was Nehammer Mitte des Monats sagte.

Dabei steht der Kanzler seinen Bürgern aber doch relativ nahe, zumindest im Vergleich mit den Sozialdemokraten. Die oppositionelle SPÖ begrüßte den Vorschlag grundsätzlich, wandte aber ein, die Aufarbeitung müsse „ernsthaft, seriös und objektiv“ geschehen – also bitte nicht zu weit gehen bei der Auswertung des öffentlichen Versagens. Dagegen nannte FPÖ-Chef Herbert Kickl gleich das ganze Vorgehen in überspitzter Weise einen „Verhöhnungsprozess“, an dessen Stelle „ein öffentliches Schuldeingeständnis der Bundesregierung, ihrer rot-pinken Steigbügelhalter und des Bundespräsidenten“, der Rücktritt der Regierung und sofortige Neuwahlen treten müssten.

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