Tichys Einblick
Die reinsten Sozialarbeiter

Österreich: Graz bekommt vermutlich eine Kommunistin als Bürgermeister

Die Grazer KPÖ ist so, wie früher einmal die Sozialdemokraten waren. Sie kümmert sich um die Probleme der kleinen Leute. Der kommunistische Sieg bei den Kommunalwahlen in Österreichs zweitgrößter Stadt ist zugleich Beleg des Versagens der SPÖ.

Elke Kahr, KPÖ-Chefin von Graz

IMAGO / Elmar Gubisch

Graz, die zweitgrößte Stadt Österreichs, ist schon seit zwei Jahrzehnten eine Hochburg der Kommunistischen Partei (KPÖ), die im ganzen Land seit der zweiten Nationalratswahl nach dem Abzug der Besatzungsmächte eine Splitterpartei ist. Elke Kahr, Parteichefin der Grazer KPÖ wird wahrscheinlich den Bürgermeisterstuhl einnehmen. Ihre Partei erreichte bei den Gemeindewahlen 28,9 Prozent, das sind neun Prozentpunkte mehr als beim letzten mal.

Kahrs Wahlerfolg ist der Lohn für eine anhaltende Basisarbeit, welche der örtlichen KPÖ seit bald zwei Jahrzehnten bei Gemeinderatswahlen 20 bis 22 Prozent brachte: in den besseren Vierteln und rund um die Universitäten noch mehr. Die Leute der Grazer KPÖ arbeiten wie die reinsten Sozialarbeiter. Die Abschaffung des globalen Kapitalismus steht im Programm, für die Tagespolitik von Kahr und Genossen hat das keine Bedeutung.

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Die Grazer KPÖ war seit Beginn der zweiten Republik immer mit einem Mandat im Gemeinderat vertreten, setzte sich dort von Anfang an für sozial Schwache ein und startete in den 1990ern eine Initiative um Ticket-Preise und Verkehrsrythmen im Öffentlichen Nahverkehr – kümmerte sich also um reale Probleme des Alltags Vieler. Dem folgte der erste großen Wahlerfolg 1998 und das Wohnressort für die KPÖ. Dieses nahmen in der letzten Amtsperiode die anderen der KPÖ weg und gaben ihr das Verkehrsressort, weil sie das Wohnressort für den Grund des KPÖ-Erfolgs hielten. Zu kurz gedacht. Die kontinuierliche Sozialarbeit der KPÖ und von Elke Kahr ist die Grundlage ihres Erfolgs.

Jeder KPÖ-Abgeordnete gibt einen großen Teil seines Gehalts an einen Sozialfond ab. Der hilft Menschen in Not bei ihren Mietrückständen, Wohnungsausstattung und -reparaturen, Essen oder einer billigeren Wohnung. Oder schlicht sachkundiger Beratung – ohne die entwürdigende Situation vor und hinter dem Schalter. Einfach gesagt: Die untypische Grazer KPÖ ist, was ganz früher mal die typische SPÖ war. Vor mir sehe ich den guten Nachbarn und Freund der Familie meiner Kindheit und Jugend in der Arbeitersiedlung in der Obersteiermark, ein Sozialdemokrat der alten Schule, der in der dortigen Gemeinde tat, was Elke Kahr und die ihren in Graz tun.

Damit ist schon gesagt, dass nicht zuletzt die SPÖ dieses Feld der KPÖ überlassen hat. Der Grazer KPÖ-Erfolg ist zugleich das Versagen der SPÖ und anderen Rathaus-Parteien. Bei den Wählern ist der Befund sehr einfach. Alles was nicht ÖVP und FPÖ wählt, kann von Wahl zu Wahl bei Grünen und SPÖ landen, kommunal in Graz bei der KPÖ. Bei der Nationalratswahl 2019 waren die Grünen die großen Nutznießer dieser Beweglichkeit, 2017 war es die SPÖ gewesen.

Die gebürtige Grazerin Elke Kahr ist 59 Jahre alt. Mit ihr ist in der steirischen Hauptstadt über eine Amtsperiode als Bürgermeister hinaus zu rechnen. Die Parteienlandschaft ist auch in Österreich in Bewegung.

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