Die Gefahr eines Krieges in Nordwestafrika ist immer noch nicht gebannt. Die neue Militärregierung in Niger, die sich am 26. Juli an die Macht geputscht hatte, hat internationalen Forderungen nach der Wiedereinsetzung des legitimen Präsidenten Mohamed Bazoum bisher nicht nachgegeben. Die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) hatte am vergangenen Sonntag eine 7-Tage-Frist gesetzt, um die alten Verhältnisse wiederherzustellen.
Nachdem am Donnerstag eine Unterhändlergruppe der ECOWAS ohne Ergebnis abgezogen war, hatte sich die Lage kontinuierlich verschlechtert. Eine diplomatische Lösung erscheint derzeit nicht in Sicht. Stattdessen hat Bola Tinubu, der Präsident des südlichen Nachbarstaates Nigeria, im Senat nach Unterstützung für eine mögliche militärische Intervention in Niger gesucht. Auch der Senegal signalisierte Bereitschaft, Truppen zu entsenden.
Die ECOWAS besitzt 15 Mitglieder. Vier davon sind jedoch nach einem Staatsstreich suspendiert und mit Sanktionen belegt worden: Mali und Guinea wurden 2021, Burkina Faso 2022 suspendiert. Niger wurde nach dem Sturz Bazoums suspendiert und ebenfalls mit Sanktionen belegt. Im Falle einer militärischen Intervention haben Mali und Burkina Faso zugesagt, Niger zu unterstützen. Der Konflikt ist damit einer zwischen verschiedenen ECOWAS-Mitgliedern, wobei die Putschisten versuchen, ihre Autorität aufrechtzuerhalten. Nicht zu Unrecht dürften Burkina Faso und Mali befürchten, dass sie nach einer erfolgreichen Operation das nächste Ziel sein könnten.
Für die ECOWAS wäre es nicht der erste Krieg. Zuletzt intervenierte sie 2017 in Gambia. Präsident Yahya Jammeh hatte nach einer Wahlniederlage im Dezember 2016 diese nicht anerkennen wollen und durch Amtszeitverlängerungen und Verhängung des Ausnahmezustands versucht, an der Macht zu bleiben. Senegal, Nigeria, Ghana, Mali und Togo begannen darauf mit einer Militärintervention. Jammeh begab sich am 21. Januar 2017 ins Exil. Der Einsatz dauert als „Stabilisierungsmission“ bis heute an. Die USA und Großbritannien befürworteten die Intervention. Die UN hatte zuvor eine „friedliche Machtübergabe“ befürwortet, nicht jedoch militärische Gewalt.
Doch Gambia ist nicht Niger. Nicht nur hätte die Militärregierung in Niamey zwei Verbündete in der Region. Auch Algerien, das nicht der ECOWAS angehört, hatte gedroht, sich in den Konflikt einzumischen, sollte der jetzige Status quo geändert werden. Niger ist zudem in seinen geographischen Ausmaßen eine ganz andere Kategorie als das kleine Gambia. Die Gebiete in der Sahelzone und der Sahara sind schwer zu kontrollieren. Sollte Algerien nicht direkt intervenieren, so könnte es möglicherweise das Land mit Waffen versorgen. Algerien gilt als ein Hauptabnehmer russischer Waffentechnik. Und anders als Gambia ginge es nicht um den bloßen Egoismus einer Regierung, sondern einen Stellvertreterkrieg von Weltmächten.
Erschwerend kommt hinzu, dass der derzeitige Anführer des Putsches, Abdourahamane Tchiani, selbst in mehreren militärischen Konflikten gedient hat. Er nahm an den UN-Friedensmissionen in der Elfenbeinküste, Sudan und der Demokratischen Republik Kongo teil. Bei der ECOWAS-Mission in der Elfenbeinküste 2003 nahm er als Brigade-General teil. Das Nachrichtenportal Al Jazeera weist demnach nicht zu Unrecht darauf hin, dass Tchiani weiß, was auf ihn zukommt.
Eine letzte Möglichkeit wäre, dass die ECOWAS-Staaten in letzter Minute ihr Ultimatum verlängern. Das bedeutete jedoch einen herben Gesichtsverlust. Es würde den Block als handlungsunfähig zeichnen und die Putschregierungen bestärken. Die Integrität der ECOWAS stünde auf dem Spiel. Es könnte andere Militärführer ermutigen, sich ebenfalls an die Macht zu putschen und als Volkstribune aufzutreten, die in patriotischem Dienst ihr Land aus der postkolonialen Fremdherrschaft befreien wollen. Dass ausländische Firmen vom Ressourcenreichtum der Region profitieren, ist eine Binsenweisheit; dass dem Mythos der Befreiung in Afrika wie Lateinamerika jedoch so gut wie nie der versprochene Wohlstand, als vielmehr die Bereicherung von Diktatoren folgte, ebenso.
Wirft man einen Blick auf die Hauptseiten der großen US-Medienportale Fox News und CNN, dann fällt auf, dass der Konflikt in Niger eine untergeordnete Rolle spielt. Das mag verwundern angesichts der rund 500 Millionen Dollar, die Washington seit 2012 nach Niamey gepumpt hat, um das dortige Militär aufzurüsten. Man hätte mit mehr Gegenwehr gerechnet. Bis zuletzt waren rund 1.000 US-Soldaten in Niger stationiert, nigrische Soldaten wurden von US-Einheiten ausgebildet. Washington sichert Bazoum weitere Unterstützung zu, doch offenbar bleibt es vorerst bei reinen Lippenbekenntnissen.
Selbst als Nigeria ankündigte, im Parlament einen Antrag auf Intervention in Niger zu stellen, schaffte es diese Nachricht zuerst nicht auf die Hauptseiten. Nigeria ist das mit Abstand bevölkerungsreichste Land der Region und verfügt über den größten militärischen Apparat. Präsident Tinubu ist amtierender Vorsitzender der ECOWAS. Er steht daher unter Druck, die Krise im Sinne seines Landes zu lösen, das als möglicher Hegemon Westafrikas gehandelt wird. Zudem ist Niger ein direktes Nachbarland mit einer gemeinsamen Grenze von rund 4.500 Kilometern. Es existieren kulturelle, sprachliche und ethnische Verknüpfungen zwischen dem muslimischen Norden Nigerias und Niger.
Zu diesen Verbindungen gehört auch der dschihadistische Terror. Überfälle halbnomadischer muslimischer Stämme, die christliche Dörfer liquidieren, gehören im Norden Nigerias zur Tagesordnung. Die Methoden der Islamisten in der Region ähneln sich. Der Schrecken Boko Harams ist auch im Westen ein Begriff, das Pfingstmassaker 2022 hat zumindest für kurze Zeit die Fulani-Milizen Nigerias in den Vordergrund gerückt. Burkina Faso befindet sich indes nach Meinung des Bischofs Laurent Birfuoré Dabiré bereits zur Hälfte in der Hand islamischer Terroristen. Seit dem Putsch in Burkina Faso hat sich die Lage eher verschlechtert. Niger galt bisher als Säule der Dschihadistenbekämpfung in der Region, doch der Machtwechsel in der Hauptstadt Niamey dürfte für einen ähnlichen Aufschwung islamistischer Gewalt sorgen.
In Burkina Faso zählt sich rund ein Viertel, in Nigeria rund die Hälfte der Bevölkerung zum Christentum. Niger dagegen ist ein nahezu homogen muslimisches Land. Nur 60.000 der rund 26 Millionen Einwohner sind Christen. Die Präsenz westlicher Truppen hatte in der Vergangenheit den islamistischen Hotspot in der südwestlichen Region Tillabéri leidlich unter Kontrolle behalten können. Tillaéri grenzt an Mali, Burkina Faso und Benin und ist die Heimat von General Tchiani. Dort ist eine Al-Quaida-Zelle aktiv, die einen islamischen Staat in der Sahara aufbauen will. Die Dschihadisten sollen teils bis in die Außenbereiche Niameys eingedrungen sein.
Der Terror der Islamisten hat bereits hunderte Tote gefordert; Hunderttausende sind vor ihnen auf der Flucht. Niger bot im vergangenen März 700.000 Menschen Schutz, die vor den Dschihadisten flüchteten. Dabei gehört Niger bereits jetzt nach dem Human Development Index zu den zehn ärmsten Ländern der Welt. Es landet auf dem drittletzten Platz. Die Anforderungen, die an das Land gestellt werden, kann es kaum bewältigen. Auch Mali, Burkina Faso und Tschad gehören in dieselbe Liste der zehn unterentwickeltsten Nationen der Welt. Dass Niger auch als Schlüsselland bei der Migrationsbegrenzung galt, liegt auf der Hand. Mit dem Verlust westlicher Oberhoheit stellt sich die Frage nach den Flüchtlingsströmen neu. Und mit der Eskalation der Krise zu einem militärischen Konflikt dürften sich nochmals hunderttausende Menschen auf den Weg machen.